Stadtentwicklung in Bremerhaven: Brache der Hoffnung
In Bremerhaven soll das ehemalige Gelände der Firma Kistner entwickelt werden – womöglich ein Impuls für den gesamten Stadtteil Lehe.

Die Reste dieser Familientradition konnte man jahrelang auf dem Hobby- und Heimwerkermarkt an der Hafenstraße im Bremerhavener Stadtteil Lehe erleben: Ein etwas aus der Zeit gefallenener Pavillon, in dem es nach Gestern roch, der aber auch auf eine seltsame Weise Geborgenheit gab. Hinter dem Markt erstreckte sich ein Gelände mit mehr oder weniger baufälligen Hallen und Bürogebäuden bis zum Fluss Geeste hinunter. Darüber ragte der alte Schornstein mit dem „Kistner“-Logo.
Anfang der 2000er-Jahre schloss der Markt, die Firma ging pleite. Seit 2005 liegt das Kistnergelände brach. Ein „Filet“-Grundstück zwischen Gründerzeitquartier, Fluss, ehemaligem Werftgelände und Eishalle. Gegenüber der Geeste grasen Ochsen auf Weideland.
Das unübersehbare Potenzial des Geländes soll nun endlich erschlossen werden und gleichzeitig Impulse für die Entwicklung des nahen Goethequartiers geben, dem Herz von Lehe.
Der alte Schornstein bleibt
Ein von der Stadt ausgeschriebener Wettbewerb wurde per Jury-Entscheid vom Architektur- und Stadtplanungsbüro Spengler & Wiescholek in Zusammenarbeit mit den Landschaftsplanern Bruun & Möllers gewonnen. Er sieht einen Teilabriss der maroden Gebäude vor, erhält aber den Schornstein sowie eine Tonnenhalle, in der früher der Kalksandstein gepresst wurde.
Zur Hafenstraße entsteht ein Lebensmittelmarkt, zum Fluss hin öffnet sich ein städtebauliches Quartier mit 64 höherwertigen Wohnungen und einem Hostel. Das Flussufer wird zu einen öffentlich begehbaren Park umgewandelt.
Oberbürgermeister Melf Grantz (SPD) freute sich, dass der Entwurf „sowohl die Lage im Stadtteil Lehe als auch die Nähe zum Wasser angemessen berücksichtigt“. Die 18-köpfige Jury lobte den „städtebaulichen Gesamteindruck.“ Die konkrete Fassadengestaltung steht noch aus.
Gewinn für die ganze Stadt
So oder so ist die Entwicklung des Geländes ein Gewinn für die ganze Stadt und Teil einer allmählichen Öffnung zum Wasser hin, die Bremerhaven lange verschlafen hatte. So sehr war in der DNA der Stadt Wasser mit Arbeit und Industrie verwoben, zu gering der Bedarf an höherwertigem Wohnraum.
Bremerhaven gelingt seit Längerem besser als anderen Kommunen, seine ehemaligen Industrie-Quartiere aufzuwerten und umzugestalten und gleichzeitig deren identitätsstiftendes Potenzial beizubehalten: Der Fischereihafen wurde geöffnet für Veranstaltungen, Hotels und Gastronomie, das Areal um den Neuen Hafen aufwendig instand gesetzt. So wurde ein ehemaliges Dock freigelegt und zu einer Grünfläche umgedeutet. Darum gruppiert sich zeitgenössische Architektur.
Während anderswo Schlösser und mittelalterliche Stadtkerne wiederaufgebaut werden und so letztlich der Phantomschmerz des Verlustes historischer Strukturen und identitätsstiftender Ensemble nur verstärkt wird, schafft man es in Bremerhaven, das Alte in neue Lebensformen und Architekturen zu integrieren und damit versöhnend zu wirken. Das gelingt nicht immer ohne öffentlichen Druck, aber es gelingt.
Im Schatten der „Hafenwelten“
Das Kistnergelände ist ein ganz wesentlicher Baustein in diesem Prozess. Während das Stadtzentrum in Mitte mit deichnahen „Hafenwelten“ schon länger nachhaltig wiederbelebt wurde, stand das gerne als Problemstadtteil denunzierte Quartier Lehe lange Zeit im Schatten. Mit dem Um- und Wiederaufbau des Kistnerareals an Hafen- und Werftstraße ändert sich dies nun. Entstehen wird ein Ort, an dem sich hoffentlich Bremerhavener verschiedener Einkommensklassen begegnen können: Keine abgeschlossenen Wohntürme, sondern durchmischter, öffentlicher Raum.
Zeugnis des Wiederaufstieg
Zu hoffen ist, dass hier neben symbolhafter Erhaltung von Schornstein und Tonnenhalle eine inhaltliche Aufarbeitung der Firmengeschichte, etwa in Form von groß aufgezogenen Fotografien aus dem Kistner-Nachlass als permanente Ausstellung gezeigt wird. Diese Bilder, die die Nordsee-Zeitung als „Zeugnisse der Wertschätzung, die der Arbeitgeber seinen Beschäftigten entgegenbrachte“, bezeichnete, dokumentieren nicht nur die Bedeutung der Firma für die Bremerhavener Seele. Sie zeigen, dass eine Stadt in gemeinsamer Anstrengung aller Klassen und Gewerke nach einem Niedergang immer wieder aufzublühen vermag.
Wenn das umgestaltete Kistnerareal hierfür ein Signal sein kann, dann wird seine Bedeutung die rein städtebauliche weit übersteigen.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach Taten in München und Aschaffenburg
Sicherheit, aber menschlich
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt
Soziologische Wahlforschung
Wie schwarz werden die grünen Milieus?
Nach Absage für Albanese
Die Falsche im Visier
Comeback der Linkspartei
„Bist du Jan van Aken?“
Krieg in der Ukraine
Keine Angst vor Trump und Putin