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Staat ohne ChaoskompetenzOhne Chaos­können keine Competition

Die Welt fällt an vielen Stellen auseinander – da ist der Wunsch nach Ordnung verständlich. Doch in Unordnung versteckt sich wertvolle Kreativität.

Unsere Autorin würde nur im Notfall das Haus verlassen, ohne vorher das Bett zu machen Foto: Lubitz + Dorner/Plainpicture

I ch bin eine ordentliche Person. Ich mag es, wenn alles seinen Platz hat. Ohne mein Bett zu machen, würde ich nur im äußersten Notfall aus dem Haus gehen, und sobald Besuch abgereist ist, sortiere ich freundlich eingeräumtes Geschirr wieder dorthin, wo es hingehört – weil ich in der Wiederherstellung dieser meiner Ordnung Ruhe finde.

Gleichzeitig bewundere ich das Chaos anderer Leute. Manchmal wünschte ich, mehr wie die Kollegin mit dem Zettel-Bücher-Kaffeetassen-Gebirge auf dem Schreibtisch zu sein, die im Durcheinander Kreativität findet (oder einen Schokoriegel zur richtigen Zeit).

Zum Glück kann ich Chaos nicht überall von mir fernhalten. Ansonsten würde ich mich vermutlich in das sprichwörtliche running system verwandeln und wäre genau deshalb unbeweglich, langweilig, ideenlos. Wer kommt schon auf überraschende Gedanken, wenn jede Möglichkeit zu stolpern weggeräumt ist?

Sowieso bin ich nicht die Einzige, die ein paar ihrer Chaosvermeidungsstrategien überwinden sollte. Damit meine ich weniger unsere Schreibtische und mehr das größere Ganze. „Never change a running system“ ist im Jahr 2023 längst kein Motto mehr, nach dem es sich gut leben lässt.

Ein oft bemühtes politisches Versprechen handelt von Ordnung. Wer Ordnung hält, ist regierungsfähig. Wer Ordnung wieder herstellt, ist wählbar. Ein unordentlicher Staat versagt. Aber wäre es angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen nicht hilfreich, wenn Politik chaosfähig wäre, zumindest zeitweise?

Veränderung ist Chaos und Chaos ist der Untergang

Das heißt nicht, dass alles umgeworfen und kaputt gemacht werden soll. Aber es ist nun mal unbestreitbar real, dass die Welt, wie wir sie kennen, gerade an vielen Stellen auseinanderfällt. Und wir täten gut daran, uns mit ihr neu zu sortieren, anstatt ständig die Zustände zu erzwingen, die uns das alles eingebrockt haben.

Auch Unordnung kann gefährlich sein, und ist sicher kein erstrebenswerter politischer Dauerzustand. Aber wo Menschen lange ungestört mit ihrer eigenen Ordnung bleiben, hat Angst ein leichtes Spiel. Eine, die behauptet, dass man selbst angesichts von Jahrhundertfluten, -bränden und -hitze zuerst den Status quo schützen müsse. Eine, die sagt: Veränderung ist Chaos und Chaos ist der Untergang.

Daraus folgt dann ein Europa, das Abschottung und Abschreckung als nachhaltige Strategie im Umgang mit Migration verkauft und darüber Menschenrechte verrät. Oder eine Regierung, die sich notwendig radikale Klimapolitik regelmäßig von der FDP vermasseln lässt. Oder Menschen, die in Sternchen zwischen Buchstaben eine Bedrohung sehen.

In Krisenzeiten, heißt es, sehnen sich viele nach Anführer*innen, die wieder für Ordnung sorgen. Das kommt nicht nur autoritären und rechten Kräften gelegen. Es steht auch der Entwicklung einer Unordnungskompetenz im Weg, die wir dringend bräuchten, um aus dem unausweichlichen Durcheinander etwas Neues zu machen. Womöglich sogar etwas viel Besseres.

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Lin Hierse
taz-Redakteurin
Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Nach ihrem Debüt "Wovon wir träumen" (2022) erschien im August ihr zweiter Roman "Das Verschwinden der Welt" im Piper Verlag. Foto: Amelie Kahn-Ackermann
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3 Kommentare

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  • Mal wieder eine dieser Lin-Hierse-Kolumnen, wo sich hinter der amüsanten Fassade mehr philosophischer Tiefgang verbirgt als in Heideggers[*] Gesamtwerk. Immer wieder ein Genuss.

    [*] OK, der war unfair. Ich erhöhe auf Nietzsche.

    • @Ajuga:

      Sie müssen ja unglaublich belesen sein, wenn sie alles von Heidegger und Nietzsche gelesen haben. Ich habe da aber doch einige Zweifel, auch was den Grad der philosophischen Tiefe der Kolumne betrifft. Denn das darin Unterschiedene steht doch merkwürdigerweise in einem wirren Verhältnis. Staat, Politik, das Politische, wir, wer ist eigentlich Adressat der Kolumne? Sind imaginierte und symbolische Ordnung nicht vielmehr Reaktion auf die Angst vor dem Chaos, ihr großes Andere? Und ist also Unordnung, die Störung nicht vielmehr das Substanzielle der Ordnung? Zeigt sich also Unordnungskompetenz nicht gerade erst in der Ordnung? Wäre also nicht viel eher zu fragen, wie die Unordnung in der Ordnung aufgehoben werden sollte? Wenn man mag, kann man dies doch zurecht als ein großes, wenn nicht gar das große Thema der (deutschen) Philosophie bezeichnen, ein Streitpunkt von Heidegger und Nietzsche, oder nicht? In dieser Konstellation lässt sich auch die Frage verorten, wieso rechte Kräfte nicht auch die Kräfte sind, die der Entwicklung einer Unordnungskompetenz im Wege stehen? Sind sie nicht eben die Kräfte, die dafür sorgen, die Verantwortung und Autorität im Verhältnis zur Unordnung an (den einen) andere(n) abzutreten? Die Frage ist doch: Wer soll überhaupt Unordnungskompetenz entwickeln? Deshalb die Frage nach den Adressaten. Etwas komisch wirkt es da auf mich, dass Hierse die Kolumne unter den Topos der competition, des Wettkampfs stellt. Eine Kategorie, die als Ideologie im Kapitalismus die vermeintlich natürliche evolutionäre Ordnung repräsentiert

  • Ich stimme Fraau Hierses Analyse schon irgendwie zu, auch wenn sich es für mich etwas anders darstellt: Der Staat ist doch bereits total unordentlich, anders kann man den jedes Jahr wachsenden Regelungsdschungel doch nicht nennen. Einfache klare Regeln ermöglichen Freiräume, die mit Kreativität gefüllt werden können. Oder anders gesagt: Auf die Kreativität von Anwaltskanzleien etc. hab ich keinen Bock drauf.