Spuren des Zweiten Weltkriegs: Krieg, der in den Frieden ragt

Seit 1945 ist Frieden in Deutschland, doch der Krieg blieb gegenwärtig. Vier Erinnerungen von taz-Autor*innen.

Einschusslöcher aus dem 2. Weltkrieg an einer Hauswand in Berlin

Der Zweite Weltkrieg hat vielfältige Spuren hinterlassen: Fassade mit Einschusslöchern Foto: Andreas Muhs/CARO/ullstein-bild

Die Pflastersteine

Einmal im Jahr, pünktlich zum ersten Advent, bekamen wir – die 12 Enkel meiner Großmutter – ein Päckchen. Als wir alt genug waren, um Regelmäßigkeiten zu erkennen, wussten wir, was drin ist: Eine Blechdose, in der zuvor Jacobs-Kaffee gewesen war, mit Plastikdeckel, nun ausgelegt mit Alufolie, um die Plätzchen zu schützen, die sie für uns gebacken hatte. Pflastersteine wurden sie genannt; kleine, hellbraune Rundlinge mit Zuckerguss. Legte man sie aneinander, sahen sie aus wie Kopfsteinpflaster.

An sich keine guten oder raffinierten Plätzchen. Ganz einfaches Gebäck. Im Ursprungsrezept mit nur wenig Butter, nur einem Ei, dafür Sirup und Kunsthonig. Und genau das ist Teil ihrer Geschichte, denn die Pflastersteine waren so viel mehr als Plätzchen. Erinnerungsträger, die in ihrer Krume tragen, was uns bis heute belastet, was wir nicht vergessen dürfen. Insofern ist ihre Süße auch eine Mahnung.

Zum ersten Mal hat meine Großmutter Pflastersteine 1942 gebacken, angeregt durch ein Rezept in der Werra-Rundschau mit der Überschrift „Wir backen für das Feldpostpäckchen“. Mein Großvater war zu der Zeit Wehrmachtssoldat, irgendwo in der damaligen Sowjetunion. Ihm schickte sie ein Päckchen mit Pflastersteinen nach dem Rezept aus der Heimatzeitung. Und tatsächlich schickte sie es ihm nur einmal, weil er im Jahr darauf tot war; „gefallen“ wie es immer heißt, in der Nähe der Stadt Schytomyr. Und trotzdem hat meine Großmutter die Pflastersteine immer wieder gebacken; stets am Montag nach Totensonntag, wenn sich das Pfarrhaus, in dem sie nun ohne den Mann und Vater der drei Kinder lebte, auf Weihnachten vorbereitete.

Sie hat Unmengen davon gebacken und sie in Päckchen verschickt: an Soldaten aus der Kompagnie ihres Mannes, an Witwen Gefallener, später an ihre Kinder, noch später an uns. Jahr für Jahr, immer diente das Rezept aus der Werra-Rundschau als Vorlage, nur wurde – die Zeiten wurden besser – Kunsthonig durch echten Honig ersetzt, mehr Butter gab es auch.

Diese Plätzchen symbolisierten die persönliche Trauer einer Familie. Und sie trugen stets das Erinnern an deutsche Schuld in sich

Noch heute werden Pflastersteine bei uns gebacken zu Beginn der Adventszeit; meine Mutter hat die Tradition weitergeführt. Und immer schwingt die Geschichte mit, gebacken „für das Feldpostpäckchen“, verschickt an den Mann, den Vater, den seine Kinder nur aus Erzählungen kennen und wir Enkel erst recht. Der Soldat, der als Pfarrer nicht hätte in den Krieg ziehen müssen, der es aber tat, weil auch er überzeugt war von Hitlers Kriegszielen. Der Mensch, der in Schytomyr starb. Dort, wo genau 80 Jahre später wieder Menschen sterben.

Diese kleinen, runden Dinger symbolisierten zuerst – unausgesprochen – die persönliche Trauer einer Familie; sie trugen stets – erst recht unausgesprochen – das Erinnern an deutsche Schuld und grausame Verbrechen in sich. In diesem Advent rufen sie wach, warum wir Deutschen heute eine besondere Verantwortung dafür haben, dass dort, wo unsere Großväter wüteten, nicht erneut Menschen Opfer eines brutalen Angriffskrieges werden dürfen. Felix Zimmermann

Die Soße auf dem Teller

Wenn man bei meinen Eltern einen Schrank öffnet, sollte man auf einiges gefasst sein. Es fallen einem gerne mal Tüten oder Gläser oder andere Dinge entgegen. Im Keller gibt es einen Raum, der ist komplett mit Kartons vollgestellt. Und in der Küche finden wir bei Besuchen regelmäßig Lebensmittel, die seit Jahren oder gar Jahrzehnten abgelaufen sind. Gewürze, Honig, Tee, gekörnte Brühe, sogar Nudelsaucen und Schokolade.

Aber wegwerfen? Das fällt meiner Mutter schwer. Sie ist einige Jahre vor Kriegsende geboren, und vielleicht erklärt das, warum vor allem Essen für sie so wertvoll ist. Sie liebt Teigschaber, besonders die aus weichem Gummi, denn damit bekommt sie jeden Rest aus der Schüssel.

Wenn die Enkelkinder aufgegessen haben, fragt sie regelmäßig, warum sie denn nicht aufessen. Sie meint die Soßenreste auf ihren Tellern. Wenn die Enkel dann wirklich nicht mehr können, isst mein Vater die Teller blank. Er legt eigentlich Wert auf gute Manieren, aber hilft – zumindest bei seinem eigenen Teller – dann auch mal mit der Zunge nach.

Man könnte das Nicht-wegwerfen-Können als Schrulle abtun. Gleichzeitig ist es für uns, die wir immer nur Konsum und Überfluss erlebt haben, auch eine Erinnerung: Es ist nicht selbstverständlich, immer alles jederzeit verfügbar zu haben. Auch wir sollten achtsamer sein. Wir müssen ja nicht gleich die Sauce vom Teller lecken. Milena Klink

Der Traum

Es war ein immer wiederkehrender Traum, den ich in meiner Kindheit hatte. Er handelte vom Krieg. Ich bin in der Wirtschaftswunderzeit aufgewachsen, der Vergessenszeit, der Lass-uns-nicht-darüber-reden-Zeit, der Zeit, in der Zukunft galt. Wie sich die Vergangenheit dann aber in meine Träume geschlichen hat, das kann man sich denken. Denn Kinder wissen Dinge, die ihnen die Erwachsenen nie erzählten. Sie wissen sie anders als die Erwachsenen, aber sie wissen sie.

Die Schlüsselszene in diesem Traum, der mich plagte und mir große Angst machte, ging in etwa so. Meine Mutter, meine Geschwister und andere Leute des Dorfes, Alte, Frauen, Kinder, mussten in Windeseile auf den Anhänger eines Lastwagens steigen. Wie ich, so klein noch, es schaffte, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass der Lastwagen schon im Fahren war, denn wir waren auf der Flucht. Ich saß am hinteren Rand neben der Wagenklappe und sah meinen Vater in Soldatenmontur mit Stahlhelm und Gewehr panisch dem Lastwagen hinterherrennen, er wollte auch auf die Ladefläche. Ich rief nach ihm, aber er schaffte es nicht. Er wurde kleiner und kleiner und verschwand.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Selbst jetzt, nach so vielen Jahren, sehe ich beim Aufschreiben die Bilder vor mir und spüre, wie mein Herz schneller schlägt.

Meine Familie hat keine Fluchtgeschichte. Wir wohnten in Süddeutschland – unweit des Rheins. Wohl wurde die Mutter meiner Mutter mit ihren sechs Töchtern gegen Ende des Krieges in den Schwarzwald evakuiert, da die französische Armee die Region von der westlichen Rheinseite aus beschoss. Aber die älteren vier Töchter, sie waren zwischen 17 und 22 Jahre alt, und meine Mutter war eine von ihnen, mussten mit dem Fahrrad abwechselnd zurück ins Dorf, um die Tiere auf dem Bauernhof zu versorgen. Eine Woche die älteren beiden Schwestern, eine Woche die mittleren beiden Schwestern. Diese Episode wurde gern erzählt, sie schien mit Angst gepaartes Abenteuer. Mein Vater war Soldat im Krieg. Zeitweise im Nachschub, hat Panzer von der Fabrik auf Züge verladen und mit zur Front gefahren. Und dann wieder zurück zur Fabrik.

Aber solche Details spielten nicht in meinen Kindertraum hinein. Da war lediglich das Bild des rennenden Soldaten mit Gewehr und Helm, der mein Vater war, und da war der Lastwagen, der davonfuhr, ohne ihn mitzunehmen. Obwohl Frieden war, träumte ich als Kind vom Krieg. Irgendwo, irgendwie werden die Erwachsenen, und das sind ja nicht nur meine Eltern gewesen, trotz des Schweigegebotes geredet haben. In Andeutungen. Mit Worten, die Kinder nicht verstehen. Sie haben Erfahrungen, die sie nicht verarbeiten konnten, weitergegeben an die nächste Generation, die sich mit ihnen in den Träumen herumschlug.

Ich weiß nicht, wann ich aufhörte, diesen Traum zu träumen. Vielleicht als ich anfing zu fragen, was habt ihr getan? Und keine Antwort bekam. Waltraud Schwab

Die Band und die Bomber

Vor dem Rathaus meiner Heimatstadt kann man immer noch die in den Boden eingelassenen schweren Stahldeckel mit der Aufschrift „Luftschutz“ sehen, Hersteller Mannesmann. Darunter der Schutzraum. Ich ging jeden Tag auf dem Weg zur Schule an diesem Mahnmal des letzten Kriegs vorbei. Luftschutz, Mannesmann. An der Heimatfront kam der Tod von oben.

Eine der Bands, die wir mit 15 hörten, hieß Motörhead. Ihr erstes Konzert spielten Motörhead im Februar 1975. Sie hängten den Nachbau einer Heinkel He 111, des deutschen Standardbombers aus dem Zweiten Weltkrieg, über die Bühne. Ihre Konzerte begannen mit dem Klang einer Sirene, Luftalarm. Sie blendeten ihr Publikum mit Suchscheinwerfern, während Sänger Lemmy Kilmister, der ein Eisernes Kreuz um den Hals trug, über den Bombenkrieg sang. Manchmal trug er auch eine SS-Uniform.

Als ich ihn traf, 40 Jahre nach seinem ersten Konzert mit Motörhead und 70 Jahre nach Ende des großen Kriegs, fragte ich ihn, warum. „Britische Soldaten sahen damals aus wie Pfadfinder“, sagte Lemmy. „Das Design der deutschen Uniformen war dagegen unglaublich gut. Und unglücklicherweise sah die Uniform der SS am besten aus.“

Lemmy meinte, Motörhead machten Musik für das Zeitalter der Massenvernichtung: „Der Krieg war das zentrale Ereignis des 20. Jahrhunderts.“ Auf jedem Motörhead-Album gibt es mindestens einen Song über den Krieg. „Krieg ist ein griffiges Thema“, sagte Lemmy dazu trocken. „Irgendwo findet immer einer statt.“ Vier Wochen später starb er, das ist nun auch schon wieder sieben Jahre her.

An seinen Satz musste ich in jüngster Zeit oft denken. Irgendwo findet immer einer statt. Ulrich Gutmair

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