Spielfilm über Kinder in Kabul: Emanzipation im Kinderheim
Shahrbanoo Sadat führte bei „Kabul Kinderheim“ Regie. Der Film würdigt die Ära der sowjetischen Besatzung als fortschrittliche Zeit.
Im August dieses Jahres holte die Wirklichkeit den Film „Kabul Kinderheim“ über ein Waisenhaus für Straßenkinder ein. Nur war sie nicht so leicht auszuhebeln, wie es die jugendlichen Helden der afghanischen Regisseurin Shahrbanoo Sadat als große Kino-Fantasie erträumen.
„Kabul Kinderheim“ stand kurz vor dem Kinostart in Europa, als Shahrbanoo Sadat und ihre Angehörigen vom Einmarsch der Taliban in Kabul überrascht wurden. Seither überschneidet sich die dramatische Geschichte ihrer Flucht mit den vielstimmigen Kommentaren zu ihrem Film, der eine eigenwillige Retro-Hommage auf die Zeit der einstigen sowjetischen Besatzung erzählt und mit dem Vormarsch der islamistischen Mudschaheddin im Jahr 1992 endet.
Shahrbanoo Sadat wurde ausgeflogen
Bei der jetzigen Machtübernahme der Islamisten kämpfte die Regisseurin drei angsterfüllte Tage darum, mit ihrer Familie von französischen Truppen aus Kabul ausgeflogen zu werden. Mit der geglückten Ankunft am neuen Wohnort in Deutschland ging eine Ära zu Ende, die einer talentierten jungen Afghanin wie Shahrbanoo Sadat Filmstudien in Europa, Koproduktions-Netzwerke und erste internationale Festivalerfolge ermöglichten, etwa mit ihrem Debütfilm „Wolf and Sheep“, der 2016 in Cannes Premiere feierte.
Afghanische Geschichten zu erzählen, wie sie es möchte, wird in Zukunft nur aus dem Exil heraus möglich sein, wenn es auch bisher schon kaum möglich war, unbehelligt im eigenen Land zu drehen.
Authentische Kindheitserinnerungen
Auch 1992, als die Regisseurin gerade zwei Jahre alt war, eskalierten die Zeichen eines radikalen Umbruchs nach dem Rückzug des sowjetischen Militärs und dem Vormarsch der Mudschaheddin. Nicht der mehrjährige brutale Krieg zwischen der fremden Hegemonialmacht und den mit US-amerikanischen Spezialwaffen ausgerüsteten Sandalenkämpfern ist Shahrbanoo Sadats Thema, es geht ihr vielmehr um die kaum gewürdigte afghanische Alltagswelt jener Ära, in der die sowjetische Dominanz für Fortschrittlichkeit sorgte, zumindest in der Hauptstadt Kabul.
Zwei vollkommen gegenläufige Elemente dieser Erfahrung überblendet das Drehbuch des Films, das auf authentischen Kindheitserinnerungen und Tagebuchaufzeichnungen von Anwar Hashimi fußt, Shahrbanoo Sadats Koautor, engstem Mitarbeiter und erwachsenem Protagonisten unter den Jungs in „Kabul Kinderheim“.
„Kabul Kinderheim“. Regie: Shahrbanoo Sadat. Mit Qodratollah Qadiri, Sediqa Rasuli u. a. Dänemark/Deutschland/Frankreich/Luxemburg/Afghanistan/Katar 2019, 90 Min.
Da ist zum einen die Faszination für bonbonbunte, romantisch-action-geladene Bollywoodschinken, die seinerzeit in den Kinos in Kabul Erfolge feierten und das Herz der Hauptfigur Qodrat höher schlagen lassen. So intensiv, dass die Regisseurin dem 15-Jährigen MTV-ähnliche Clips gönnt, in denen er sich aus dem Handlungsablauf heraus als großen Star imaginiert und wunderbar kitschige Cover-Versionen alter Bollywoodsongs präsentiert.
Soziales Leben lernen
Zum andern schildert der Film eine fantastisch harmonische Emanzipationsgeschichte der multiethnisch zusammengewürfelten Jungen in dem russisch geführten Waisenhaus. Eine erstaunlich heile Binnenwelt, in der die Jugendlichen ohne Blasiertheit oder affektiert zur Schau getragene Coolness soziales Leben lernen. Zwei halbwüchsige Schurken gibt es, die in den Schlafräumen ein Terrorregime der Ausgrenzung und Unterwerfung durchzuziehen versuchen, vom Leiter des Internats, dargestellt von Anwar Hashimi, jedoch vorbildlich zur Rechenschaft gezogen werden.
Qodrat, der wie alle Jugendlichen im Film seinen authentischen Namen trägt und schon in „Wolf and Sheep“, einer Geschichte unter kindlichen Hirten, Mädchen und Jungen in einem Dorf, im Mittelpunkt stand, spielt in „Kabul Kinderheim“ einen elternlos Aufwachsenden. Er vertickt Schlüsselanhänger aus Gewehrmunition, geht leidenschaftlich gern in Bollywoodfilme und dreht anderen Fans gefälschte Kinokarten an. Als die Polizei ihn eines Tages schnappt, beginnt sein Weg in das sachlich, kompetent und freundlich geführte Kinderheim.
Der Freundschaftskult
Nah an seinem Protagonisten, seinen still beobachtenden Blick groß im Bild, zeigt der fast ausschließlich von einem weiblichen Team realisierte Film das Ideal einer aufgeschlossenen Erziehungsinstitution für heranwachsende Jungen. Die Trennung zwischen den Geschlechtern drückt sich in Qodrats stummer Schwärmerei für ein unerreichbares Mädchen in seiner Schulklasse aus, während die Älteren beim Anblick der zu Besuch weilenden Mütter in Miniröcken in obszöne Macho-Sprüche verfallen.
Das große Thema des Films ist der Brüder- und Freundschaftskult, der die warmherzige, von liebevollen Gesten geprägte Atmosphäre unter den Jungen feiert. Beim Schachspiel, das sie in einem (milde ironisch inszenierten) russischen Pionierlager sogar am PC optimieren, zeigen sich die Stärken des Systems, das der Film scharf gegen die islamistischen Schlächter abgrenzt.
Fragt sich, ob in Zukunft auch Filme möglich sein werden, die den westlich orientierten Bildungschancen für Mädchen und Frauen bis zur Machtübernahme der Taliban aus afghanischer Perspektive ein eindrückliches Denkmal setzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz