Spielfilm über Demenz: Reise in den bröckelnden Verstand
Florian Zeller hat sein Stück „The Father“ über einen Demenzkranken mit Anthony Hopkins verfilmt. Erzählt wird aus der Sicht des Erkrankten.
Die Armbanduhr ist weg. Gerade hing sie noch am Handgelenk, jetzt ist der Arm nackt, auch auf dem Nachttisch liegt nichts. Jemand muss sie gestohlen haben, vermutlich, ach was, ganz sicher hat die Pflegerin sie mitgehen lassen. Mit der verstand sich Anthony (Anthony Hopkins) ohnehin nicht. Auch mit den dreien davor nicht. Anne (Olivia Colman), Tochter des 80-jährigen distinguierten Londoners, hat darum ihre liebe Not mit dem Vater. Denn sie plant, die Stadt zu verlassen, mit ihrem Partner nach Paris zu gehen. Aber wer kümmert sich dann um „The Father“?
Die Uhr, deren Verbleib immer wieder thematisiert wird, ist in Florian Zellers Film mehr als ein Accessoire. Sie gibt einen Hinweis darauf, wie mit ihrem Verschwinden Anthonys räumliche und zeitliche Orientierung schwinden. Denn, man ahnt es früh, er leidet an einer fortschreitenden Altersdemenz. Die Geschichte des französischen Regisseurs und Autors Zeller wird seit 2012 international mit viel Erfolg als Theaterstück aufgeführt.
2015 entstand in Frankreich eine filmische Adaption unter der Regie von Philippe Le Guay. In der zweiten Leinwand-Bearbeitung seines Dramas, von Zeller selbst inszeniert, zeigt er formal ein erweitertes Kammerspiel, das in Anthonys Wohnung beginnt, einem mit Gemälden und Büchern ausstaffierten Upper-Class-Apartment in einem londontypischen, viktorianischen Reihenhaus. Man spürt, wie gut Anthony sein Reich kennt, wie sehr ihm der Blick aus dem Fenster auf die Straßenecke, die Ordnung der Schränke, der Bilder, vertraut sind, wie oft er mit Kopfhörern im Sessel saß, um Purcells „King Arthur“ zu hören, oder Bizet, oder die Callas.
Kammerspiel-Setting
Das Kammerspiel-Setting hat also Sinn, ist viel mehr als bloßer Handlungsort. Denn es ist das Vertraute, das Private, die eigene „Kammer“, was sich für den nur noch wenig mobilen Anthony sukzessiv ändert: Wo ist das Bild, das Anthonys andere Tochter Lucy malte und das stets über dem Kamin hing? Die Frau, die ihn besucht, um ihm Hühnchen zu kochen, behauptet, seine Tochter zu sein – aber sie sieht anders aus als Anne, woher hat sie den Schlüssel, wer ist sie? Ein fremder Mann sitzt wie selbstverständlich in Anthonys Wohnzimmer und trinkt Whisky – ist er ein Eindringling? Und wieso behauptet Anne, Anthony lebe bei ihr?!
„The Father“. Regie: Florian Zeller. Mit Anthony Hopkins, Olivia Colman u. a. Großbritannien 2020, 97 Min.
Mit behutsamen Wahrnehmungsverschiebungen begibt sich Zeller tief hinein in den bröckelnden Verstand des hochintelligenten alten Mannes. Anders als Demenz-Dramen wie Sarah Polleys „An ihrer Seite“ von 2006, Richard Glatzers „Still Alice“ von 2014, „Honig im Kopf“ von 2014 und auch Sally Potters „The Roads Not Taken“ aus dem Jahr 2020 erzählt er respektvoll aus Sicht des Erkrankten, anstatt seinen Zustand allein durch die Spiegelung in den Reaktionen seines Umfelds zu demonstrieren oder sich auf die Verzweiflung zu fokussieren.
Das gibt dem Film eine beunruhigende, aber auch anrührende Atmosphäre, die durch das sensible Spiel von Hopkins (der dafür in diesem Jahr einen Oscar verliehen bekam) und Colman und subtile Szenenideen verstärkt wird: Anne lässt eine Tasse fallen, die in Scherben zerspringt, kurz darauf bleibt Anthonys CD hängen, und spielt immer wieder die gleiche Stelle. Es ist eine Symbolik der Angst, der zunehmenden Konfusion, die Zeller einsetzt, um die sich steigernde Ohnmacht bei allen Beteiligten zu illustrieren. Denn es betrifft den Mann, dessen Gedanken nicht mehr konzentriert bleiben wollen, genauso wie seine Tochter, die vor allem in ihren Beziehungen darunter leidet, wie stark ihr Leben um den Vater kreiste.
Brillante Dialoge
Dabei muss Zeller nicht viel erklären lassen. Seine Geschichte funktioniert emotional: Als Zuschauer:in profitiert man nicht, wenn man wüsste, was Anthony früher beruflich machte, welcher Arbeit Anne nachgeht, was mit Lucy geschah – da gab es einen tragischen Unfall, Zeller deutet es an. Doch wir sind bei Anthony – und der weiß es nicht mehr immer. Und obwohl die Dialoge brillant sind und genauso abgeliefert werden, und obwohl nur wenig mehr als eine Wohnung zu sehen ist, bietet „The Father“ großen bildlichen Reichtum.
Zeller erzählt filmisch, er setzt die Mittel (Schnitt: Yorgos Lamprinos, Kamera: Ben Smithard) meisterlich ein, um die vertraute Umgebung in ein Labyrinth aus fremden Gängen und Türen zu morphen und den apodiktischen, selbstgewissen Mann, dem Dünkel nicht fremd ist, in seiner Entwicklung zurückzuschicken, ins Vergessen, ins Ungewisse.
Irgendwann vielleicht ins Heim, in dem andere sich zugewandt kümmern – auch dem Pflegepersonal, das übernimmt, weil die Familie sich distanzieren muss, weil sie einfach nicht mehr kann, schenkt Zeller liebevoll Aufmerksamkeit. All das ist Realität: Zwischen 10 und 13 Prozent der Menschen über 80 leiden an einer Demenzerkrankung, bei den über 90-Jährigen sind es noch viel mehr. Das Alltägliche im Schicksal Anthonys ist bedrohlich und beruhigend zugleich. Und wir müssen es akzeptieren.
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