Spielfilm „Red Rocket“: Eine erdbeerige Liebe
Sean Bakers Spielfilm „Red Rocket“ zeigt mit Laien von entwaffnender Wahrhaftigkeit die US-amerikanische Unterschicht, ohne sie auszubeuten.
Es klopft. Vor der Tür des verlotterten Häuschens im Industriegebiet von Texas City lehnt, etwas verbeult und von der langen Busfahrt verschwitzt, Mikey „Saber“ Davies (Simon Rex). Und quatscht direkt los. Denn das kann er: Der Mittvierziger hat sich siebzehn Jahre nicht bei seiner Noch-Ehefrau Lexi (Bree Elrod) blicken lassen, die das Haus gemeinsam mit der zahnlosen Mutter Lil (Brenda Deiss) unablässig vollqualmt.
In der ersten Szene von Sean Bakers „Red Rocket“ lässt Mikey jedoch einen derartig dringlichen Mix aus Hundeblick, Großkotzigkeit und Verzweiflungstalk vom Stapel, dass Lexi ihn, nach einem wüsten „Fuck you Mikey!“, schließlich doch reinlässt. Und schon einen Schnitt später steht Mikey unter Lexis tröpfelnder Dusche. Geschafft.
Im Laufe der Geschichte wird Mikeys zweideutig ranziger Charme und sein eindeutig gutes Aussehen noch einiges reißen – wenn auch nicht alles. Einen „normalen“ Job wird er, trotz Bemühungen, nicht bekommen, denn auf die Frage seiner potenziellen Arbeitgeber:innen nach Referenzen aus den letzten Jahren muss er stets zugeben, in der brummenden „adult industry“ von Los Angeles gearbeitet zu haben.
„Red Rocket“. Regie: Sean Baker. Mit Simon Rex, Suzanna Son u. a. USA 2021, 131 Min.
Und einen Ex-Porn-Star (Simon Rex sammelte tatsächlich Erfahrungen in schwulen Pornoproduktionen, bevor er als Model, VJ und Rapper auftrat) wollen die meisten Branchen nicht beschäftigen. Nicht mal einen, der mehrere Erotikfilmpreise für die beste Hetero-„Blowjob“-Szene einsacken durfte. Wieso bekommst überhaupt du den Preis dafür, will eine Gesprächspartnerin wissen. Weil es beim Blowjob ja wohl auf den Mann ankommt, gibt Mikey im Brustton der Überzeugung zurück.
In den Niedriglohnwelten
Sean Baker lässt seine tragikomischen, authentischen Geschichten (unter anderem „Starlet“, 2012, „Tangerine L. A.“, 2015, „The Florida Project“, 2017) gern in Niedriglohnwelten, in Randgesellschaften, im „Gutter“, der Gosse, oder dem sprichwörtlichen Bordstein mit den dazugehörigen Schwalben spielen. Die Sexfilmindustrie ist für Bakers Figuren nur irgendeine latent ausbeuterische, aber bei Weitem nicht die ausbeuterischste aller Branchen.
Der Regisseur und sein Co-Drehbuchautor Chris Bergoch zeichnen Mikey als energischen, etwas abgehalfterten Möchtegern-„suitcase pimp“, was mit „Westentaschen-Casanova“ vielleicht unzureichend übersetzt wäre, es aber zum Teil trifft: In der strukturell ungerechten Welt der Mainstream-Sexfilmindustrie, die oft misogyne Narrative bedient, profitieren Pornodarstellerinnen oft auf vielen Ebenen weniger als die Männer vor und hinter den Kameras und in den Vertrieben – siehe Mikeys Blowjob-Auszeichnung.
Doch Baker ist kein Moralist: Er lässt seine Figuren, wie sie sind. Stattdessen badet er sie in Charme, gepaart mit einer lebendigen, durch viele Laiendarsteller:innen unterstützten Wahrhaftigkeit. Und so hat Mikeys erwachende Liebe zu einer 17-jährigen Donut-Verkäuferin namens „Strawberry“ (Suzanna Son), die er in einem Imbiss kennengelernt hat und für die er die vorsichtig und durch einigen Körpereinsatz geknüpften Bande zur pragmatischen Lexi wieder schleifen lässt, etwas Erdbeeriges, Reines.
Auch wenn Mikey es kaum abwarten kann, bis seine Süße 18 und damit pornotauglich wird: Mit Strawberry als Star will er eine echte Managerkarriere durchstarten. Und sie will das auch – gegen den Fettkringelverkauf an muffelige Ölarbeiter im „The Donut Hole“ sieht eine Zukunft als Sexfilmstar mit festem Partner nicht nur erdbeerig, sondern rosig aus.
Jenseits der Moralkonvention
Selbst wenn Baker jedoch nicht „moralisch“ im Sinne einer fragwürdigen, gesellschaftlichen Moralkonvention ist, und das auch nicht sein muss, kann man in „Red Rocket“ (so nennt man nebenbei einen erigierten Hundepenis) viel Humanismus entdecken: Innerhalb der Systeme, die Baker beschreibt, werden durchaus Diskurse über Gerechtigkeit und Gleichberechtigung verhandelt.
Die Gruppe um Mikeys neue, schwarze „Arbeitgeberin“ betrachtet und bewertet beispielsweise sein ambivalentes Verhalten gegenüber Lexi scheel. Denn Chefin Leondria (Judy Hill) kennt Mikey von früher – sie ist die Drogenqueen der Gegend, betreibt mithilfe ihrer genderliquiden Tochter einen florierenden Handelsring, und hat den damals jungen Mikey in den 90ern schon zum Grasverkaufen geschickt.
Und natürlich trägt auch Bakers unapologetische und selbstverständliche Darstellung von Sex zur sichtbaren Botschaft von Toleranz bei: Manchmal ist Verkehr eben einfach nur Verkehr, zum Beispiel wenn zwei ehemalige Pornodarsteller:innen (auch Lexi hatte eine Karriere im Business) sich einen langweiligen Abend aufhübschen und den Bums angenehm sachlich durchführen.
„Du machst das echt gut“, ist in einem solchen Fall kein hervorgestöhntes Kompliment, das die Frau verteilen muss, weil sie sich zu einer männlichen Selbstbewusstseinsboosterung verpflichtet fühlt, sondern die professionelle Anerkennung von (S)Expertise.
Prekäre Poesie
Neben dem brillanten Schauspiel, das in vielen Fällen allein auf einem Vertrauensverhältnis zwischen dem Regisseur und seinen Laiendarsteller:innen beruhen kann (man hatte beim Dreh inmitten der höchsten Covid-Auflagen nur ein zehnköpfiges Team und keine Proben), ist es zudem Bakers Auge für die als ungastlich angesehenen Industrie-Randgebiete der Stadt, das den auf 16 mm gedrehten Film auf eine knorrige Art funkeln lässt.
Wenn Mikey die langen Gräten auf sein zu kleines Fahrrad schwingt, um auf dem Weg zu Strawberry wie ein Affe auf dem Schleifstein an einem Gerüst, einer Pumpe und einem (Phallus-)Turm nach dem anderen vorbeizuradeln und ihm dabei eine übergewichtige Frau auf einem langsamen Elektrorollstuhl entgegenkommt, ist das schon ein einwandfreies Bild der prekären Poesie.
Und das feinsinnige Gefühl für Timing des 51-jährigen Regisseurs und Editors Baker spiegelt sich in den dramaturgisch perfekt geschnittenen, einzelnen Sequenzen seiner Filme wider, die sich allerdings im Ganzen wenig um die klassische Akt-Filmdramaturgie scheren. Stattdessen geht er „with the flow“, und lässt seinen Figuren so viel oder wenig Zeit, wie sie seiner Ansicht nach brauchen – auch wenn sie darum oft ein bisschen auf der Stelle zu treten scheinen.
So erzählt Baker in seinen Independent-Werken eine US-Parallelwelt voller Armut und Schönheit, voller Humor und Bodenständigkeit, ohne dabei verstörend, didaktisch, warnend oder (im male gaze Sinne) ausbeuterisch zu sein. Neben „Red Rocket schaffen es auch viele seiner anderen Geschichten – in „Starlet“ arbeiten einige Figuren als Pornodarsteller:innen, „Tangerine L. A.“ erzählt von trans Sexworker:innen –, die Sexindustrie nur zu streifen, nur als „Welt“ zu behandeln.
Menschenfreundliche Sex-Neugier
Das geht, weil Baker von den üblichen Signalbildern absieht, die einerseits die Situation anprangern sollen, aber andererseits auf die normativ geprägte Sex-Neugier des Publikums setzen. Es ist eine vielversprechende Entwicklung, dass auch andere aktuelle Werke wie Ninja Thybergs „Pleasure“ oder die Serie „The Deuce“ neue Blicke und weibliche Erzählperspektiven finden und nicht mehr aus Bildern Profit schlagen, die auf Ausbeutung basieren.
Unterm Strich ist „Red Rocket“ trotz des flatterhaften Protagonisten mit seiner Vorliebe für zu junge Frauen, seinem merkwürdigen Karriereverständnis und seiner Treuelosigkeit somit kein frauen- und auch kein männerfeindlicher Film. Sondern vor allem ein menschenfreundlicher.
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