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Soziologie der SeucheAlles auf Abstand

Die mit der Corona-Pandemie einhergehenden Abstandsregeln haben einen Nebeneffekt: Sie verbessern den Umgang miteinander.

Seuchenschutz: Menschen stehen mit großem Abstand Schlange Foto: Georg Wendt/dpa

Hamburg taz | Distanz wahren lautet die zentrale Handlungsanweisung, mit der die Politik fast überall auf der Welt der Corona-Pandemie Herr zu werden versucht. Damit zieht plötzlich ein ungewohnter Anstand in das öffentliche Leben ein. Die Menschen nehmen einander wahr, sie nehmen Rücksicht aufeinander.

So paradox es ist: Das Social Dis­tancing, das Voneinander-Abstand-Halten, bringt uns einander näher, weil wir uns gegenseitig Respekt erweisen. Distanz zu wahren bedeutet, dem anderen nicht auf die Pelle zu rücken, und das kann viele Formen annehmen:

In der Corona­krise ist es zunächst einmal die physische Distanz; dann aber auch der Abstand, den man wahrt, indem man sein Gegenüber von den eigenen Körperflüssigkeiten verschont. In normalen Zeiten würde es bedeuten, in der U-Bahn nicht die Beine breit zu machen, andere nicht zuzutexten, Leuten den Vortritt zu lassen.

Distanz schafft überhaupt erst die Voraussetzung für friedliche Begegnungen. Abstand verhindert, dass mein Gegenüber einfach über mich herfallen kann. Der Handschlag – der in Coronazeiten freilich ausfallen muss – ist dabei eine Geste, die es zugleich ermöglicht, Kontakt aufzunehmen, das Gegenüber einschätzen zu können, die aber automatisch einen Abstand von anderthalb Armlängen herstellt.

Forschung zum Raumverhalten

Nach der Proxemik, der Forschung zum Raumverhalten, beginnt hier die „soziale Distanz“ oder je nach Nomenklatur „entfernte persönliche Distanz“. Alles was näher ist, setzt eine spürbare Vertrautheit mit dem anderen oder ein persönliches Interesse voraus. Die intime Distanz, in der wir körperliche Kontakte zulassen, beträgt ungefähr einen halben Meter.

Das verbale Gegenstück zum Handschlag ist das Siezen. „Sie Arschloch“ oder „Sie Schlampe“ klingt wie ein Widerspruch in sich. Auch wer siezt, gewährt einem Fremden ein Mindestmaß an Respekt. Im Geschäftsleben signalisiert es, dass man es mit jemandem zu tun hat, der etwas im Schilde führen könnte.

Nationen, in denen es üblich ist, sich zu duzen, haben oft eine Hilfskonstruktion für das Sie. Briten sprechen sich mit Mister und Misses an, US-Amerikaner verwenden Sir im Umgang mit Kunden und Höhergestellten. Ähnlich kann auch das Sie eine Distanz zwischen oben unten markieren, allerdings gleichgewichtig: Man siezt sich gegenseitig.

Man könnte sagen, Distanz stabilisiert das soziale Gefüge, und je prekärer dieses ist, desto größer der Bedarf an Distanz. Einen Extremfall stellen dabei Großreiche und frühe Staaten dar. Während der längsten Zeit der Geschichte war der Zugriff der Herrscher auf ihre Untertanen und ihren Apparat so schwach, dass sie den Abstand zu ihnen mit Hilfe von Propaganda und eines ausgeklügelten Zeremoniells ins aus heutiger Sicht Absurde steigerten: Sie erklärten sich zu Göttern.

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7 Kommentare

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  • Also, ich beobachte eher die Tendenz, im anderen nur noch eine potentielle Virenschleuder zu sehen. Das hat nichts mit diesem - mit Verlaub - kleinbürgerlichen Begriff von Anstand zu tun. Dass Menschen in der U-Bahn nicht miteinander reden, ist doch nicht zu begrüßen! Dass Menschen umeinander herum navigieren und diese Angst vereinzelt doch noch mehr. Sorry, von dieser Sorte "Anstand" haben wir in Deutschland wirklich genug!

    • @RosaLux:

      Wenn es kleinbürgerlich sein soll, Zutextereien in der U-Bahn und Auf-die-Pelle-Gerücke abzulehnen, dann bin ich gerne Kleinbürger.



      Angesichts der zahlreichen Knoblauch- und Mundgeruch-Mitmenschen kann man fast schon sagen: Danke, Corona!

  • Tatsächlich bedeutet das englische you ursprünglich nicht etwa du, sondern ihr. Es war früher die formelle, höfliche Anrede. Bis ins 19. Jahrhundert und zum Teil heute noch in einigen englischen Dialekten war die persönliche Anrede thou.

  • "Damit zieht plötzlich ein ungewohnter Anstand in das öffentliche Leben ein. Die Menschen nehmen einander wahr, sie nehmen Rücksicht aufeinander."

    Ich sehe da keinen kausalen Zusammenhang und beobachte das so auch nicht.

    Das einzige, was mir auffällt, sind dicke Plexiglasscheiben und jetzt auch noch Mundschutz auf beiden Seiten der Scheibe dazu. Ich verstehe meinen Gesprächspartner akustisch also gar nicht mehr und er mich auch nicht. Stressig ist das ganze auch, so dass der Aggressivitätspegel steigt.

    Und draußen ohne Plexiglas und Mundschutz sehe ich auch keinen großen Abstand, der Anstand fehlt mir dabei allerdings weniger.

    Mir fehlt die Nähe und das nette, angstlose Beisammensein - egal ob per Du oder Sie oder mit einer scheinbaren Göttlichkeit.

  • Das Abstandhalten hat wohl mehr mit Eigeninteresse und Angst vor einer Infektion durch die Anderen zu tun als mit Respekt und Anstand. Also eher Misstrauen als eine neu entdeckte Höflichkeit.

  • "Das Social Dis­tancing, das Voneinander-Abstand-Halten, bringt uns einander näher, weil wir uns gegenseitig Respekt erweisen". Schon, aber das gibt sich danach wieder...fürchte ich leider.

    • @joaquim:

      Habe ich tatsächlich auch als erstes gedacht. Denn alte Gewohnheiten halten sich ja bekanntlich hartnäckig.



      Für einen echten Wandel im Umgang braucht es da wohl mehr als nur ein paar Monate Ausnahmezustand.