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Soziologe vor Wahl in Venezuela„Soziale Ungleichheit wie noch nie zuvor“

Am Sonntag sind in Venezuela Parlamentswahlen – die Opposition boykottiert diese. Das Land stecke in einer schweren Krise, sagt Edgardo Lander.

„Der Staat hat aufgehört zu funktionieren.“ Menschen an einer Essens­ausgabe einer privaten Armenküche in Maracaibo Foto: Gaby Oraa/rtr
Jürgen Vogt
Interview von Jürgen Vogt

taz: Herr Lander, viele Menschen haben Venezuela verlassen. Warum haben Sie das nicht getan?

Edgardo Lander: Hier sind meine Wurzeln, hier leben meine Familie und meine Freunde. Aber wegen der Repression weiß man nie, wann man keine andere Wahl hat als zu gehen. Die Tatsache, dass ein Viertel der Bevölkerung das Land in den letzten zehn Jahren verlassen hat, ist auch einer der Gründe, warum der Widerstand gegen die autoritäre Herrschaft heute so schwach ist.

taz: Wie geht es denen, die im Land bleiben?

Lander: 80 Prozent der Bevölkerung leben in Armut, 20 Prozent haben keine Sorgen. Das ist eine soziale Ungleichheit wie nie zuvor in unserer Geschichte. Und es gibt noch weitere Indikatoren, wie die Unterernährung bei Kindern, die dramatische Verschlechterung des Bildungsniveaus oder das Wiederauftreten von Krankheiten, die verschwunden waren. Die Löhne im öffentlichen Sektor sind kaum noch etwas wert. Der Mindestlohn beträgt nur noch drei Dollar pro Monat. Der Staat hat aufgehört zu funktionieren.

Im Interview: Edgardo Lander

Geboren 1942 in Caracas, Venezuela. Der Soziologe und Linksintellektuelle ist inzwischen emeritierter Dozent an der Universidad Central de Venezuela sowie Fellow am Transnational Institute.

taz: Was ist mit denen ohne Sorgen?

Lander: Die traditionelle Wirtschaftselite hat irgendwann erkannt, dass die politische Opposition ihr Versprechen, Chávez oder später Maduro abzusetzen, nicht würde halten können. Also begann sie, ein brüderliches Verhältnis mit den neuen Reichen und dem Militär aufzubauen, die einen großen Teil der Wirtschaft kontrollieren und davon profitieren.

taz: Es heißt, dass man gut leben kann, wenn man Dollar hat. Stimmt das?

Lander: Ja, der Zugang zu Dollar bestimmt, wer gut leben kann und wer nicht. Vor fünf Jahren beschloss die Regierung, die Preiskontrollen der Chávez-Zeit nach und nach aufzuheben. Gleichzeitig hat sie die Einfuhrsteuern schrittweise abgeschafft. Heute kann alles importiert werden und man kann alles, wirklich alles, kaufen. Mit dem kleinen Problem, dass man dafür Dollar braucht. Die Mehrheit der Bevölkerung hat keine.

taz: Am Betrug bei der Präsidentschaftswahl im Juli 2024 besteht kein Zweifel. Gab es dennoch einen Moment, in dem Sie dachten, Nicolás Maduro würde abtreten?

Lander: Nein, das war ausgeschlossen. Die gesamte Politik dieser Regierung ist darauf ausgerichtet, an der Macht zu bleiben. Aber sie haben nicht mit einer so schweren Niederlage gerechnet. Aus den von der Opposition veröffentlichten Protokollen geht hervor, dass das Ergebnis etwa 70 zu 30 Prozent gegen Maduro ausfiel. Eine Fälschung war schlicht nicht möglich. Also lösten sie einfach den Nationalen Wahlrat auf, erklärten Maduro zum Sieger und das war's. Bis heute sind keine offiziellen Ergebnisse veröffentlicht worden.

taz: Nach der Wahl kündigte Maduro an, dass seine Regierung ein zivil-militärisch-polizeiliches Regime sein werde. Wie würden Sie dieses Regime beschreiben?

Lander: Das einzig Neue daran ist das Wort Polizei. Regierung und Militär sind seit langem verschmolzen. Die Vorstellung, dass das Militär die Regierung unterstützt, ist daher irreführend. Hugo Chávez war ein Militär und hat in allen wichtigen Gremien Militäroffiziere eingesetzt. Maduro hingegen kam aus einer kleinen linken Partei, die keine Verbindung zum Militär hatte und sogar eher antimilitaristisch eingestellt war. Um jedoch die Loyalität der Militärs zu gewinnen, gewährte er ihnen noch mehr Privilegien und Macht. Heute sind alle wichtigen staatlichen Unternehmen mit Militärs besetzt, die auch bei Korruption und illegaler Bereicherung eine zentrale Rolle spielen.

taz: In den Tagen nach der Wahl wurden viele Menschen willkürlich verhaftet. Wie ist ihre Situation?

Lander: Von den etwa 2.000 Verhafteten befinden sich viele noch immer in Gewahrsam. Heute gibt es mehr als 1.000 politische Gefangene. Viele sind unter sehr prekären Bedingungen und weit weg von ihrem Zuhause inhaftiert. Das Recht auf Verteidigung wird ihnen verwehrt. Viele der Verhafteten sind junge Menschen, die gegen Wahlbetrug protestiert haben. 14-Jährige werden beschuldigt, Terroristen zu sein. Ihre Mütter haben begonnen, sich in einem Kollektiv zu organisieren. Auch wenn ihre kleinen Kinder freigelassen werden, bleiben sie aktiv. Als „Mütter politischer Gefangener“ haben sie inzwischen einen sehr starken symbolischen Wert.

taz: Es wird oft behauptet, dass Venezuela von Kuba aus regiert wird. Stimmt das?

Lander: Kuba hat heute weniger Einfluss als früher. Die Entwicklung der staatlichen Sicherheitsstruktur, wie Polizei und Geheimdienste, basierte auf den kubanischen Erfahrungen. Kuba drängte auf einen Sozialismus, der Sozialismus mit Etatismus gleichsetzt. Es wurde ein enormer Druck ausgeübt, um die Verstaatlichung der Wirtschaft voranzutreiben. Dies führte zu einer Katastrophe, weil es einfach an Managementkapazitäten mangelte. Letztendlich kontrollierte der Staat einen großen Teil der Wirtschaft, der jedoch durch Ineffizienz und Korruption gekennzeichnet war. Ein großer Teil dieser verstaatlichten Wirtschaft überlebt nur dank der Subventionen, die aus den Ölexporten stammen.

taz: Venezuela hat eine klassische Rentenokönomie. Alles basiert auf der Ölförderung und dem Ölverkauf. Wie ist die Lage in diesem Sektor?

Lander: Die tägliche Ölförderung ist von 3,3 Millionen Fass auf zwischenzeitlich 300.000 Fass gesunken. Derzeit liegt die Förderung bei 1 Million Fass pro Tag. Für ein Land, das 90 Prozent seiner Deviseneinnahmen aus dem Ölhandel bezieht, ist das ein Kollaps. Der Wert der gesamten Wirtschaftsleistung beträgt nur noch 25 Prozent dessen, was er vor zehn Jahren war.

taz: Zu Zeiten von Hugo Chávez sahen die Dinge anders aus.

Lander: In den ersten Jahren der Chávez-Ära gab es zwei Säulen, die den bolivarischen Prozess unterstützten. Die eine Säule war Chávez selbst mit seiner Führungsstärke und seinem Charisma. Die andere Säule war der hohe Ölpreis auf dem Weltmarkt. Plötzlich brachen beide Säulen fast gleichzeitig zusammen. Chávez starb und der Ölpreis sank. Maduro trat sein Amt unter völlig anderen Bedingungen an. Er hatte nie den Rückhalt in der Bevölkerung, den Chávez hatte, und der fallende Ölpreis schränkte seinen finanziellen Spielraum ein.

taz: Aber da sind auch noch die US-Wirtschaftssanktionen.

Lander: Die Sanktionen begannen während Donald Trumps erster Amtszeit und betrafen den Finanz- und den Ölsektor. Venezuela wurde der Zugang zu internationalen Krediten gekappt, einschließlich des Zugangs zu Sonderziehungsrechten beim Internationalen Währungsfonds. Venezuela hat Anspruch auf fünf Milliarden Dollar vom IWF, auf die es nicht zugreifen kann. Zudem konnte Venezuela seine Auslandsschulden nicht tilgen, da der Zugang zu einem großen Teil der von den USA kontrollierten Finanzsysteme gesperrt ist. Hinzu kommt der Einbruch im Ölsektor, der nicht nur auf mangelnde Effizienz und Korruption zurückzuführen ist, sondern auch auf die Sanktionen. Beides hat brutale wirtschaftliche Auswirkungen. Und jetzt hat Trump gedroht, alle Waren aus Ländern, die Öl aus Venezuela kaufen, mit Einfuhrzöllen von 25 Prozent zu belegen. Es gibt bereits Länder wie Indien, die erklärt haben, dass sie kein Öl kaufen werden. Sollte dies geschehen, würde dies den Zusammenbruch dessen bedeuten, was von Venezuelas noch übrig ist. Die Folge wäre eine Hungersnot.

taz: Wie reagiert das Regime?

Lander: Zum Beispiel durch den Einsatz unerkannter Tanker, die ihr Identifikationssystem oder ihre GPS-Verbindung abschalten. Oder Tanker, die auf hoher See Öl von einem Schiff auf ein anderes umladen. Das Öl wird zu Preisen verkauft, die weit unter dem Marktpreis liegen, abgesehen von allen damit verbundenen kriminellen Risiken und Korruption. Es hat Fälle gegeben, in denen Tanker mit 800.000 Barrel Öl Venezuela verlassen haben, ohne zu bezahlen.

taz: Das klingt so, als ob das Regime gezwungen ist, illegalen Handel zu treiben.

Lander: Um zu überleben, muss es korrupt sein. Wenn Sie sich in die Lage einer Regierung versetzen, die für die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln verantwortlich ist, der dies aber gleichzeitig international verboten ist, dann bleibt ihr nur der Handel mit illegalen, korrupten Unternehmen. Heute ist sie von einer internationalen Mafia-Wirtschaft abhängig.

taz: Warum rebellieren die Menschen nicht?

Lander: Weil sie dann umgebracht werden.

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1 Kommentar

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  • Oha, am Ende ist doch wieder die USA an allem schuld.



    Das ist wie immer, die gute alte linke sichtweise auf die Welt.