Soziologe über Migration: „Antifaschismus heißt mehr über die soziale Frage sprechen“
In Deutschland wird über Migration entweder als Bedrohung oder als Ressource gesprochen. Beides falsch, sagt der Migrationsforscher Helge Schwiertz.
taz: Herr Schwiertz, vor zehn Jahren wähnte sich Deutschland als Land der Willkommenskultur. Schon kurz danach wurde über Geflüchtete vor allem als Bedrohung gesprochen. Warum ist die Stimmung umgeschlagen?
Helge Schwiertz: Ich glaube, dass das Motto Refugees Welcome 2015 zwar kurz im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte stand, dass aber schon damals die politischen Verhältnisse in Deutschland von einer anti-migrantischen Hegemonie geprägt waren. Die Problematisierung von Migration ist einfach tief in die gesellschaftlichen Verhältnisse eingeschrieben.
taz: Können Sie das genauer erklären?
Schwiertz: Migration wird grundsätzlich als ein Problem gesehen. Und das geht letztendlich an der Realität der Migrationsgesellschaft vorbei.
taz: Sie sagen, es gibt in Deutschland vor allem zwei Bilder über Migration.
Schwiertz: Ja, in dem einen wird die Gesellschaft als ein Volk begriffen und Migration erscheint dem gegenüber als ein bedrohliches Anderes, also als ein Problem. Migration als Bedrohung darzustellen, trägt zugleich dazu bei, die Vorstellung eines einheitlichen Volkes hervorzurufen und dieses gewaltvoll abzugrenzen.
„Anti-migrantische Hegemonie überwinden – Solidarische Infrastrukturen der Migration aufbauen“, 9.12. um 19.30 Uhr, Kölibri der GWA St. Pauli, Hein-Köllisch-Platz 12, Hamburg.
taz: Und welches ist das andere Bild?
Schwiertz: Das der Gesellschaft als Bevölkerung. Da geht es dann eher darum zu schauen: Wie kann diese Bevölkerung optimiert werden, damit alle noch produktiver sind? Da erscheint Migration weniger als ein Problem, sondern mehr als eine nützliche Ressource. Diese beiden Bilder stehen in einem Spannungsverhältnis, überlappen sich teilweise aber auch.
taz: Sie kritisieren beide Bilder. Warum haben Sie ein Problem mit dem Argument, Deutschland brauche Migration, zum Beispiel um der Überalterung oder dem Fachkräftemangel in der Pflege zu begegnen?
Schwiertz: Ich möchte das tatsächlich problematisieren, weil es Menschen auf ihre Nützlichkeit reduziert. Es wird damit eine Unterscheidung zwischen vermeintlich guten und schlechten Migrant*innen eingeführt. Die Offenheit gegenüber den sogenannten Nützlichen, geht mit einer noch härteren Abgrenzung gegenüber denen einher, die vermeintlich nicht nützlich sind. Hier überlappen sich die Bilder: Weil man den Maßstab der Nützlichkeit ja so insbesondere an nicht-deutsche Migrant*innen anlegt und jetzt nicht in demselben Maße an eine Bevölkerung, die bereits zum Volk gezählt wird. Es werden an Migrant*innen übersteigerte Forderungen gestellt, sich nützlich zu machen, weil sie überhaupt erst als Andere dargestellt werden.
taz: Was ist denn die Alternative – eine andere Erzählung über Migration und Flucht?
Schwiertz: Es ist wichtig, Migration und Gesellschaft nicht gegenüberzustellen, sondern vielmehr das Bild einer Migrationsgesellschaft in den Mittelpunkt zu rücken. Wir sollten weniger auf die Ebene des parteipolitischen oder medialen Diskurses schauen, sondern stärker danach, was in den Städten, in den Gemeinden, in den Nachbarschaften passiert. Da leben Menschen bereits zusammen und es gibt Ansätze, mit Herausforderungen umzugehen. Genau hier müssen wir ansetzen und die gelebte Realität diesem öffentlich konstruierten Bild von Migration als Problem entgegensetzen.
taz: Wird das die potenzielle AfD-Wählerin überzeugen, die glaubt, Geflüchtete bekämen viel Geld vom Staat?
Schwiertz: Wir müssen im Sinne eines „präventiven Antifaschismus“ mehr über die soziale Frage sprechen. Man muss gegen den Rassismus von AfD, CDU und ihren Anhänger*innen argumentieren, aber es ist nachhaltiger, zugleich über das, was viele Menschen beschäftigt, wie Mieten und steigende Preise, zu sprechen – statt der Problematisierung von Migration mehr Raum zu geben. Es ist wichtig, auf allen Ebenen der anti-migrantischen Hegemonie etwas entgegenzusetzen. In meiner Forschung wurde deutlich, dass Menschen nicht nur auf Protestformen wie Demos setzen, sondern vermehrt Infrastrukturen der Solidarität aufbauen. Beispiele dafür sind in Hamburg die migrantisch selbstorganisierte Gruppe Women in Action oder die Initiative Hamburg sagt Nein zur Bezahlkarte.
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