Sozialproteste im Libanon: Gegen die Korruption vereint
Tausende Menschen fordern ein Ende der Politik für Reiche im Libanon. Ministerpräsident Saad Hariri bietet ihnen nun ein Reformpaket an.
Das Bauunternehmen des ehemaligen Ministerpräsidenten Rafik Hariri hatte das einstige Theater 1990 nach Bürgerkriegsende gekauft. Dessen Umgebung hat er privatisiert und dort eine noble Shoppingmeile gebaut. Das Gebäude steht symbolisch für den Kampf der Libanesen gegen die Politik, die seit Jahren die wirtschaftliche und politische Elite bevorzugt. Von dem korrupten System profitieren Abgeordnete, politische Parteien, Großunternehmer, Bauträger und Bankiers.
Nun holen sich die Menschen ihre öffentlichen Plätze zurück. Vor allem aber fordern sie das Geld zurück, das die Politiker ihnen „gestohlen“ haben. Seit fünf Tagen protestieren rund eine Million Menschen gegen die Unfähigkeit der Regierung, einen Staatsbankrott abzuwehren, und eine Politik, die zulasten der Armen geht – nicht aber in die Taschen der Reichen langt.
In der Innenstadt Beiruts, nicht weit vom Stacheldrahtzaun und der Polizei, die das Regierungsgebäude abschirmen, lehnen Hanun, 37, und seine Frau Mimi, 28, an einem Auto. „Wir wollen den Sturz der Regierung“, sagt Hanun. „Ich habe keine Arbeit, muss aber 250.000 Lira (150 Euro) für Miete zahlen.“ Gelegentlich arbeite er als Fischer. Das Ehepaar hat die Kinder, sieben und anderthalb Jahre alt, zum Protest mitgenommen. „Ich möchte eine gute Zukunft für meine Kinder. Wir wollen leben.“
Kurz vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch
„Leben“, das heißt: soziale Gerechtigkeit, bezahlbare Schulen und Krankenhäuser, ein solides Stromnetz, öffentlicher Nahverkehr und günstige Telekommunikation. Doch der Staat kann sich all das nicht leisten. Der Libanon steht kurz vor einem wirtschaftlichen Zusammenbruch. Die Staatsschulden von 86 Milliarden US-Dollar entsprechen 150 Prozent des Bruttoinlandprodukts.
Die Ansage des Informationsministers, eine Steuer auf WhatsApp-Dienste erheben zu wollen, hat das Fass am Donnerstag zum Überlaufen gebracht. Sie war die jüngste Ankündigung in einer Reihe von politischen Entscheidungen, um dem Staatsbankrott zu entkommen, meist zulasten der Bevölkerung.
Tausende schlossen sich sogleich einem Protest rund um den zentralen Märtyrerplatz in Beirut an. Dabei zündeten Protestierende zwei im Bau befindliche Luxusbauten an und legten ein Feuer vor der Blauen Moschee und einer orthodoxen Kirche – Ikonen für gelebte Koexistenz von 18 Religionsgemeinschaften im Land.
In ihrer Wut gegen die Regierung sind die Menschen über politisch-religiöse Grenzen hinweg vereint. Der Slogan „Kullun iani kullun“ (Alle von ihnen heißt alle von ihnen), der sich als Hashtag in den sozialen Medien und Graffiti-Tag auf Wänden verbreitet, drückt das aus: Alle Regierenden sollen gestürzt werden, egal welcher Fraktion sie angehören.
Arme und Arbeitslose begehren auf
Den Massenprotest am Freitag beendete die Polizei in Beirut gewaltsam mit Tränengas und Festnahmen. 2015 gingen die Menschen zuletzt gegen die Regierung auf die Straße. Damals forderten sie eine Lösung für das Müllproblem. Während vor vier Jahren hauptsächlich Menschen zivilgesellschaftlicher Bewegungen auf die Straße gingen, sind es dieses Mal vor allem die Armen und Arbeitslosen, die aufbegehren.
Als Reaktion auf die Proteste kündigte Ministerpräsident Saad Hariri am Montag die Verabschiedung von Reformen an. Sie umfassen die Kürzung der Gehälter aktueller und ehemaliger Beamter um 50 Prozent, einen nahezu ausgeglichenen Haushalt für 2020, die Privatisierung des Kommunikationsnetzes und die Instandsetzung des Elektrizitätssektors, der ein jährliches Defizit von 2 Milliarden US-Dollar aufweist. Hariri sagte, er unterstütze vorgezogene Parlamentswahlen, wenn das die Forderung des Volkes ist.
Präsident Michel Aoun äußerte sich nach fünf Tagen andauernder Proteste erstmals: Sie seien Ausdruck des Schmerzes des libanesischen Volkes, aber es sei unfair, alle Regierungsmitglieder der Korruption zu beschuldigen. Er wolle das Bankgeheimnis gegenwärtiger und ehemaliger Beamter aufheben. Die Reformen werden viele Protestierende nicht beruhigen. Sie sind weiter auf der Straße, schwenken die libanesische Flagge, rufen „Revolution“.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!