Sozialpolitische Zeitenwende: Frontalangriff auf den Wohlfahrtsstaat
Die Tage der „sozialen Marktwirtschaft“ werden nach der Wahl endgültig gezählt sein. Eine modifizierte Schuldenbremse würde das Problem nicht lösen.
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B evor der Neoliberalismus in (West-)Deutschland seinen Siegeszug antrat, waren die Bürger/innen stolz auf „ihren“ Sozialstaat. Da lag vor keinem Supermarkt ein Bettler, gab es auch in Großstädten genügend bezahlbare Wohnungen, musste man nirgends für den Toilettenbesuch zahlen. Und es war auch überflüssig, ständig die Tarife von Telefonanbietern, Kfz-Versicherungen und Energiekonzernen miteinander zu vergleichen, um als Normalverdiener/in über den Monat zu kommen.
Heute lässt sich hierzulande ein sozialer Klimawandel beobachten, der weite Teile unserer Gesellschaft erfasst hat. An die Stelle von Solidarität tritt die soziale Ausgrenzung von Unterprivilegierten. Zuerst wurde suggeriert, dass es den Armen, vor allem Menschen im Bürgergeldbezug und auf der Flucht, zu gut gehe, weshalb ihnen die Leistungen gekürzt werden müssten. Dann, dass es den Reichen immer schlechter gehe, weshalb die Unternehmer stärker mit Subventionen oder Steuervergünstigungen unterstützt werden müssten. Zwischen den etablierten Parteien ist kaum mehr strittig, ob dies geschehen soll, sondern nur noch, wie es am besten zu bewerkstelligen sei.
Dieses Klima dürfte es der künftigen Bundesregierung erleichtern, unsoziale Maßnahmen durchzusetzen. Zu befürchten ist ein Frontalangriff auf den Wohlfahrtsstaat, wie ihn zuletzt die rot-grüne Koalition kurz nach dem Jahrtausendwechsel unternahm. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz möchte „mehr Kapitalismus wagen“, der FDP-Vorsitzende Christian Lindner sogar „ein klein bisschen mehr Milei oder Musk“. Solche Äußerungen deuten darauf hin, dass die Tage einer „sozialen Marktwirtschaft“ nach der Bundestagswahl endgültig gezählt sind.
Dabei wäre das Gegenteil nötig: Durch mehr Druck nach oben müssen die Finanzstärksten gezwungen werden, mehr Verantwortung zu übernehmen. Paradoxerweise haben sich während der jüngsten Krisen die Lebenshaltungskosten gerade der armen Bevölkerungsschichten übermäßig erhöht. Das liegt nicht allein daran, dass sie einen besonders großen Teil ihres Einkommens für Grundnahrungsmittel, Heizenergie und Wohnungsmiete ausgeben (müssen), sondern auch daran, dass vor allem „Bückware“, also zum Beispiel No-Name-Produkte und Eigenmarken der großen Handelsketten, fulminante Preissprünge gemacht haben.
„Scham muss die Seite wechseln“
Armut ist mehr, als wenig Geld zu haben. Sie bedeutet, in fast allen Lebensbereichen diskriminiert oder systematisch benachteiligt zu werden. Die damit verbundene soziale Ausgrenzung bedeutet selbst für junge Menschen ein größeres Risiko der Einsamkeit und der Isolation. So wie die mehrfach vergewaltigte Französin Gisèle Pelicot in aller Welt für ihren Satz „Die Scham muss die Seite wechseln“ gelobt wurde, so müsste es auch im Hinblick auf das wachsende Tafelelend in unserem wohlhabenden, wenn nicht reichen Land heißen: „Die Scham muss die Seite wechseln.“ Sehr viele Menschen, die Anspruch auf Sozialleistungen haben, nehmen ihn nicht wahr, weil sie sich schämen.
Viel eher schämen müssten sich aber rund 250 Milliardäre und Multimilliardäre, die es in Deutschland gibt, zahlen sie doch im Unterschied zu vielen Normalverdienenden einen verschwindend geringen Teil ihres Einkommens und vor allem ihres Riesenvermögens an Steuern. Die fünf reichsten Familien unseres Landes besitzen ein Privatvermögen von zusammen 250 Milliarden Euro, das ist genauso viel wie das der ärmeren Hälfte der Bevölkerung, also von mehr als 40 Millionen Menschen. Obwohl ihr wohltätiges Engagement diese Unwucht keineswegs ausgleicht, werden fälschlicherweise nicht Reiche, sondern Arme als „sozial Schwache“ bezeichnet. Sprache vernebelt an dieser Stelle die gesellschaftliche Realität.
Schuldenbremse ist Nebenschauplatz
Almosen, Spenden und Stiftungen, die häufig genug ein Steuersparmodell für Hochvermögende sind, lösen das Problem nicht, sondern kaschieren es nur. Die wachsende Ungleichheit ist das Kardinalproblem unserer Gesellschaft. Sie ist Gift für den sozialen Zusammenhalt und eine Gefahr für die Demokratie, verschärft ökonomische Krisentendenzen und verhindert ökologische Nachhaltigkeit. Doch statt über die Verteilungsfrage wurde im Bundestagswahlkampf bisher hauptsächlich über die „Schuldenbremse“ im Grundgesetz diskutiert. Dabei handelt es sich eher um einen politischen Nebenschauplatz, der progressive Kräfte von dem eigentlich notwendigen Kampf für die Um- beziehungsweise Rückverteilung des Reichtums abhält, wenn nicht um ein bewusstes Ablenkungsmanöver.
Denn eine Lockerung dieser sich vom Staat selbst auferlegten Kreditsperre, deren Einführung übrigens kein Manager für sein Unternehmen zugelassen hätte, würde das Problem fehlender Staatsfinanzen nicht lösen, sondern wäre vermutlich das Einfallstor für weitere Forderungen nach mehr Rüstungsausgaben, die das soziale Sicherungssystem noch mehr unter Druck setzen würden. Ärmere Bevölkerungsschichten müssen im Rahmen von Merz’ „Agenda 2030“, seiner „Neuen Grundsicherung“ oder einer „liberalen Wachstumsagenda 2030“ der FDP die laufenden Zinsen für Kredite des Bundes und deren spätere Rückzahlung vermutlich durch Leistungskürzungen im Sozialbereich finanzieren. Umgekehrt würden Reiche, die dem Staat viel eher und mehr Geld leihen können, durch Zinszahlungen der öffentlichen Hand an sie noch wohlhabender.
Soziale Ungleichheit sollte ein zentrales Thema des Bundestagswahlkampfes sein. Auf die Tagesordnung gehören sowohl eine stärkere Anhebung der Regelbedarfe, des Bürgergeldes und der Grundleistungen für Asylbewerber/innen wie auch eine stärkere Besteuerung von Hochvermögenden und Spitzenverdienern. Kita, Schule, Ganztagsbetreuung, Mittagessen und Mobilität müssen kostenfrei, Bildung, die soziale Teilhabe und die kulturellen Angebote selbst für alle Familien bezahlbar werden.
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