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Sozialpolitik von Angela MerkelVerwalterin der Ungleichheit

Merkel wird vor allem als Kanzlerin des Zusammenhalts dargestellt. Dabei ist sie Kanzlerin jener, die mit dem ökonomischen Status quo gut leben.

Raute ≠ Gleichheitszeichen Foto: Michael Kappeler/dpa

E s gibt Menschen mit viel Geld, die Porsche fahren und Champagner trinken. Und es gibt andere Menschen mit viel Geld, die sich bemühen, die Unterschiede zu denen mit weniger nicht allzu sehr zu betonen. Denn sie wissen, dass ihr Reichtum nicht gerecht ist, und dass das die anderen verärgern könnte, wenn es zu augenscheinlich werden würde. Stattdessen legen sie eine Hand auf die Schulter derer, die keine Porsche fahren, und schauen ihnen egalitär in die Augen. Und wenn sie über Politik sprechen, dann sprechen sie von Demokratie und Kompromissen.

Während solche aus der ersten Gruppe unter Po­li­ti­ke­r:in­nen ein Auslaufmodell sind, hat Angela Merkel den Typus der Letzteren in das Politische übersetzt. Wenn sie nach der Wahl im September nach 16 Jahren Amtszeit geht, dann wird unter Abschiedsschmerz öffentlich Bilanz gezogen: die Kanzlerin der Verständigung; die Krisenkanzlerin; die Kanzlerin, die Deutschland zusammengehalten hat.

Bei so viel nostal­gischer Bewunderung wird untergehen, dass Frau Merkel nicht die Kanzlerin aller gewesen ist, sondern vor allem jener, die mit dem ökonomischen Status quo gut und gerne leben; die ein paar kulturelle Liberalisierungen wie die Ehe für alle oder zeitlich begrenzten Humanismus gegenüber Flüchtlingen dafür gerne in Kauf nehmen.

Dass Merkel mit ihrem autoritären Eurokrisen-Management der Jugend Südeuropas die kalte Schulter gezeigt hat, das wird beim Rückblick wohl keine große Rolle spielen. Auch nicht, dass unter Merkel die Kinderarmut in Deutschland gestiegen ist: Die Armutsquote bei Kindern und Jugendlichen lag 2010 bei 18,2 Prozent, 2019 bei 20,5, heißt es in einer kürzlich veröffentlichten Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes.

„Unter armutspolitischen Gesichtspunkten kann man das Ergebnis nur als verheerend bezeichnen“, kommentierte auch Ulrich Schneider, Geschäftsführer des genannten Verbandes, die Sozialpolitik der Ära Merkel. Diese habe Deutschland zwar insgesamt reicher gemacht, die Armut sei trotzdem gestiegen, die Gesellschaft nach der Amtszeit Merkels tiefer gespalten. Aber vom Materiellen wird man sich bei aller symbolischen und menschelnden Abschiedsbetrachtung bestimmt nicht ablenken lassen.

Sowieso ist es viel leichter, immer noch auf einen Zigarren rauchenden, sozialdemokratischen Altkanzler zu schimpfen, der ja Hartz IV ins Land gebracht hat; und der weder seine Zigarren noch seine antisozialen Reformen versteckt hat. Dabei ist Schröder schon vorvorgestern. Jetzt geht Angela Merkel und hinterlässt einen neuen, viel bescheideneren, dafür umso effektiveren Modus der Ungleichheitsverwaltung.

Dieser Modus verdichtet sich in dem Bild des sich vor der Abschiebung fürchtenden Flüchtlingsmädchens, das von der Kanzlerin liebevoll gestreichelt wird, nachdem es wegen ihrer verständnisvoll vorgetragenen Antwort auf die Sorgen in Tränen ausbricht: „Aber es werden manche auch zurückgehen müssen.“

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Volkan Ağar
Redakteur taz2
Kolumnist (Postprolet) und Redakteur im Ressort taz2: Gesellschaft & Medien. Bei der taz seit 2016. Schreibt über Soziales, Randständiges und Abgründiges.
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8 Kommentare

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  • „Verwalterin der Ungleichheit“



    Gab es denn jemals einen Bundeskanzler, der nicht mit Kritik aus dem Amt verabschiedet worden wäre? Ich kenne keinen!



    Angenommen, Frau Baerbock wird Merkels Nachfolgerin: Auch am Ende ihrer Amtszeit werden sich ganz bestimmt genug Kritikpunkte angesammelt haben! Vielleicht wird auch sie als „Verwalterin der Ungleichheit“ bezeichnet werden, weil sie nicht allen Bevölkerungsschichten die gleichen Wohltaten beschert hat.

    • @Pfanni:

      Liebe Frau Pfanni, die Figur Kanzler*in bestimmt die Richtlinien der Politik. Dass alle Kanzler*innen mit mehr oder weniger Kritik von der Bühne gingen, ist keine Entschuldigungsrethorik, sondern Merkmal, dass alle Kanzler*innen für die Vermögenden da waren. Bist du in Deutschland arm (70% der Bevölkerung merken nicht,oder verdrängen, dass sie Arm sind), hast du kaum eine Lobby. Das sage ich Ihnen als Ökonom.

      • @Gerhard Krause:

        Merkel war Vorsitzende einer konservativen Partei mit unterschiedlichen Strömungen, inkl. CSU. Im Kabinett musste sie noch mit dem Koalitionspartner, also FDP oder SPD klarkommen. Merkels Leistung wird von den Konservativen darin gesehen, dass sie stark divergierende Ziele und die Erwartungen diverser Lobbyisten (Scheuer, Nüsslein und Co) moderiert hat, ohne die Macht zu verlieren.



        Mit uns hat das alles nichts zu tun.

  • 4G
    4813 (Profil gelöscht)

    Frau Merkel ist Tochter eines evangelischen Pfarrers.



    Das ist die Religion auf der der Kapitalismus beruht, da gibt's kein Sozialgedöns.

  • Mit "Uns geht es gut" hat Frau Merkel den letzten Wahlkampf sehr einfach gewonnen, denn tatsächlich geht es 60% der Deutschen gut. Die anderen 40% kann man also geflissentlich vergessen. Ist das noch Demokratie oder vielleicht schon demokratische Diktatur einer ökonomischen Mehrheit?

  • 9G
    95820 (Profil gelöscht)

    Verblüffend (und verstörend), dass jetzt in (fast) allen Medien von der mangelhaften Sozialpolitik einer zukünftigen Ex-Bundeskanzlerin berichtet wird. Wer zu spät kommt, werfe den letzten Stein.



    btw - : von 2015: Streicheln ist so bequem.



    Juncker streichelt Tsipras,



    Merkel streichelt Reem.



    taz.de/Merkel-und-...Maedchen/!5212613/

  • herr agar hat völlig recht.



    da frau merkel gern ihren christlichen hintergrund betont sei auf einen der wegweisensten sätze aus der bibel verwiesen : an ihren früchten sollt ihr sie erkennen.oder um es mit unseren amerikanischen freunden zu sagen : money talks + bullshit walks



    grösster niedriglohnsektor in europa zum beispiel



    die coronakrise hat wie eine riesige röntgenaufnahme genau gezeigt , wer wir sind und wo wir sind.



    alte in pflegeheimen ? nicht so wichtig.



    kinder und jugendliche ? weitgehend wurscht .



    am gleichen tag , als die regierung beschloss ganze 2 milliarden € für die förderung der schulkinder wegen coronabedingter lernrückstände aufzuwenden , gab die holländische regierung bekannt , dass sie 7 milliarden für diesen zweck bereit stellt.



    und unsere niederländischen nachbarn sind nicht ganz so zahlreich wie wir.



    letargie und beruhigung , man könnte auch sagen



    'ruhe im karton' sind bei uns deutschen offenbar sehr beliebt.



    'alternativlos' wird geschätzt .prima. da kann man



    sofort das denken einstellen.

  • Zwar geht es bislang auch noch noch schlimmer, aber ich sagen dennoch, dass Herr Agar völlig recht hat.