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Sozialpolitik in DeutschlandAber bitte ohne Grundeinkommen

Von dem Finnland-Experiment ist Deutschland weit entfernt. Doch auch hier suchen SPD und Grüne nach Auswegen aus der Hartz-IV-Falle.

Höhere Grundsicherung? Auf jeden Fall sollte mehr im Portemonnaie bleiben Foto: imago/Joko

Berlin taz | Sich aus der Armut herauszuarbeiten kann in Deutschland ziemlich schwer sein. Wer beispielsweise als selbstständige Reinigungskraft tätig ist und gleichzeitig Hartz-IV-Leistungen bezieht, muss immer wieder mit unerfreulichen Schreiben des Jobcenters rechnen. Darin kalkuliert die Arbeitsagentur die Einnahmen aus Lohnarbeit und verrechnet sie mit dem ausgezahlten Arbeitslosengeld. In vielen Fällen lautet das Ergebnis: Zahlen Sie mehrere Tausend Euro zurück – was die Betroffenen mangels Ersparnissen oft nicht leisten können. Nahe liegt dann die Reaktion: Da arbeite ich doch lieber gar nicht.

Ob sich diese Sackgasse öffnen lässt, wollte vor zwei Jahren die finnische Regierung wissen. 2.000 Arbeitslose erhielten einen garantierten staatlichen Zuschuss von 560 Euro pro Monat, der nicht mit selbst verdientem Geld verrechnet wurde.

In Deutschland ist man davon noch weit entfernt. Doch auch hierzulande gewinnt immerhin die Debatte an Fahrt, ob die Hartz-Gesetze entschärft oder durch etwas anderes ersetzt werden sollten. SPD-Chefin Andrea Nahles sagte unlängst: „Wir werden Hartz IV hinter uns lassen.“ Was das bedeutet – Wegfall von Sanktionen, höhere Grundsicherung –, will die Partei bis zum Februar zu klären versuchen.

Nahles lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass sie die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens ablehnt. Dieses fordert beispielsweise die Organisation „Mein Grundeinkommen“. Alle Bun­des­bürger*innen würden demnach zum Beispiel 1.000 Euro pro Monat vom Staat erhalten – egal ob sie arbeiten wollen oder bedürftig sind. „Die SPD steht für ein Recht auf Arbeit – und nicht für bezahltes Nichtstun“, sagte die SPD-Chefin dazu.

Anders Grünen-Chef Robert Habeck: In einem langen Papier zur Zukunft des Sozialstaates peilte er im November einen Kompromiss zwischen Grundsicherung und Grundeinkommen an. Existenzsichernde Sozialleistungen müssten „bedingungslos“ ausgezahlt werden, allerdings an den individuellen Bedarf geknüpft sein, forderte Habeck. Soll heißen: Nur diejenigen Bürger*innen, die kein oder wenig eigenes Geld haben, kämen in den Genuss der Grundsicherung. Allerdings gäbe es dann keine Sanktionen mehr, vermeintliches Fehlverhalten würde nicht bestraft. Habeck sprach sich außerdem dafür aus, den eigenen Zuverdienst „attraktiver“ zu gestalten, „damit die Menschen von ihrer Arbeit wirklich profitieren. In einem ersten Schritt wollen wir erreichen, dass alle Empfänger mindestens 30 Prozent des selbst verdienten Einkommens behalten können.“

Die SPD steht nicht für bezahltes Nichtstun

Andrea Nahles, Parteichefin

Aber warum sollen die Hartz-­Empfänger*innen nur ein Drittel ihres selbst verdienten Geldes behalten dürfen und nicht den größten Teil? So­zial­expert*innen, auch bei den Grünen, warnen, dass das für den Bundeshaushalt sehr teuer werden und viele Milliarden Euro kosten könnte.

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10 Kommentare

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  • Die Grünen haben durchaus eine Geschichte zum Grundeinkommen, s. Thomas Schmid 86: Befreinung von falscher Arbeit. Das sind Beiträge zum Modell der Sozialliberalen entsprechend Ralf Dahrendorf und der Basis Grünen, i.e. dem Garantierten Mindesteinkommen, wir besinnen uns auf die drei Grundforderungen.



    1.Das Grundrecht auf Existenzminimum gehört in die Verfassung (offen).



    2.Dieser Betrag ist steuerfrei (seit 96, Ermittlung BA Statistik seit 95.



    3.Wer weniger hat, wird vom Finanzamt per neg. ESt aufgestockt (offen).

  • Das BGE ist dringend einzuführen, denn es bedeutet endlich die Trennung von Erwerbsarbeit und Geld, einfach, weil jeder Mensch es wert ist.



    Die ganze Heuchelei von wegen, wer etwas leistet verdient auch genug, wäre endlich abgeschafft.



    Digitalisierung 2.0 wird noch eine heftigere Schere ausbilden zwischen reich und arm.



    Die Freiheit, die durch das BGE gewonnen wird, ist einfach grandios – und da der Mensch tätig sein will, kann endlich jede|r der Tätigkeit und/oder Weiterbildung nachgehen, die ihre|seine Fähigkeiten und ihrer|seiner Leistungsfähigkeit sowie ihrer|seiner eigenem Vorstellung vom Zeitaufwand entspricht.



    Die Akten vom Grundeinkommen in Kanada liegen in einem Archiv und warten auf Auswertung. Ich befürchte ja, dass das nicht ausgewertet wird|wurde, liegt am Erfolg des BGE dort, denn die Freiheit, die mit einem BGE einhergeht, ist dem kapitalistischen, ausbeuterischen System "äußerst" abträglich. Die Menschen können dann nicht mehr zu jedem verhassten Job mit der Bedrohung ihrer Existenz durch Armut gezwungen werden.



    Ich bin Fan vom BGE, auch weil es echte Emanzipation der Frau bedeuten würde.



    Der Mensch muss endlich in den Mittelpunkt gestellt werden, nicht die Erwerbsarbeit bzw. der Kapitalismus und seine Hierarchien.



    Free lunch society (Film) ansehen.



    Es ist keine Frage, ob es geht, es ist die Frage ob wir es wollen. Und wenn wir es wollen, dann müssen wir konstruktiv darüber sprechen und Wege und Lösungen finden wollen. Noch könn(t)en wir das BGE wählen, die Partei mit dem einzigen Ziel, das BGE einzuführen:



    www.buendnis-grundeinkommen.de/



    Mal sehen, ob wir es vor der restlosen Abschaffung unserer angeblichen "Demokratie" noch hinkriegen. Wäre doch echt mal was richtig neues und anderes.

  • Was an all den Votschlägen Müll ist, ist, dass bundesweit irgendein Betrag festgesetzt wird, der für alle zu gelten hat. Soll der Arbeitslose in München doch mit dem gleichen Geld seine Wohnung bezahlen wie der im Osten.



    Und soll die Oma ihren Platz im Pflegeheim vom gleichen Geld bezahlen wie der Jugendliche zu Hause wohnende?



    Bedarf ist unterschiedlich und muss individuell sein. Da war das alte System der Sozialhilfe wesentlich besser, wenn es auch viel zu niedrige Sätze zahlte.

    Außerdem muss auch berücksichtigt werden, wer wenig haben will und wer viel arbeiten will. Unmöglich erscheint mir am meisten, dass die Verantwortung, warum jemand staatliche Unterstützung braucht, in allen Modellen wieder dem Individuum zugerechnet wird. Der behinderte oder der kranke Mensch hat einen höheren Bedarf, auch, wenn er nicht arbeiten kann.



    Da zumindest der/diejenige, dem/der gekündigt wurde, oftmals nichts dafür kann, bin ich eigentlich für 100% oder etwas geringeres Arbeitslosengeld, dass aber abnehmen kann, wenn man sich nicht auf Arbeitsangebote einlässt. Hier soll aber auch bitte der Staat nachweisen, dass es Arbeit für den/diejenige gibt, die sie ausführen kann. Bislang ist die einzige Motivation, die der Staat betreibt, Sanktionen zu verhängen, zumeist, wenn sich der Betroffene nicht schnell genug, selbst um irgendeine Drecksarbeit kümmert.

    Andersrum ist besser. Positive Sanktionen wirken immer besser als negative.

  • Es ist ein gutes von Frau Nahles gegen BGE zu sein. Jedenfalls in der Form "1000 Euro für jeden" spricht fast alles dagegen. Wirds das "B" im BGE dagegen kleiner, und der Betrag auch, spricht alles dafür.



    Um zurück auf Frau Nahles zu kommen - gegen BGE zu sein und (fast) alles tun, damit der Niedriglohnsektor niedrig entlohn bleibt - das ist asozialdemokratische Heuchelei.

  • Grundeinkommen jetzt!



    Wer für ein "Recht" auf Arbeit ist, hat die kapitalistische Gesellschaft in der er lebt nicht verstanden und sich damit für politische Aufgaben disqalifiziert.



    Jeder hat ein Recht auf ein würdiges Leben und deshalb Recht auf ein Grundeinkommen!



    Ein Recht auf Arbeit ist vollständig unlogisch. Arbeit ist im Kapitalismus eine Ware und warum sollten Markteilnehmer im Kapitalismus eine Ware kaufen müssen, die sie nicht benötigen? Ein Recht auf Arbeit nur damit jeder ein Einkommen hat, ist genauso so sinnbefreit, wie der Zwang täglich einen Liter Milch zu kaufen, nur damit der Milchbauer ein Einkommen hat. Ein schönes Beispiel dafür, was passiert wenn man die Arbeit als Fetisch betrachtet und sie nicht mehr nüchtern als notwendige Leistung zur Erzeugung des materiellen Reichtums sieht ist der deutsche Steinkohlebergbau. Hier wurden viele Milliarden an Subventionen bezahlt und enorme Umweltschäden in Kauf genommen, damit die Kumpel weiter Bergmann spielen konnten. Hätte man sie entlassen, ihnen eine menschenwürdige Existenz gesichert und nur einen kleine Teil der vielen Subventionsmilliarden für neue Projekte zur Verfügung gestellt was hätten diese Menschen wohl auf die Beine gestellt? NRW und der Rest der Welt wäre wirtschaftlich, ökologisch und sozial schon viel weiter, wenn der Arbeitsfetisch endlich beerdigt würde und das bedingunglose Grundeinkommen eine Selbstverständlichkeit wäre.



    Arbeitszeitverkürzung und bedingungsloses Grundeinkommen jetzt!

    • @Thomas Dreher:

      Da bin ich ganz Ihrer Meinung!

  • Dank an Hannes Koch für diesen Beitrag.

    Eine befremdliche Debatte, angesichts der Arbeitsmarktreform Agenda 2010/Hartz 4 Gesetze 2003 unter Missachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes Art. 3 Grundgesetz zu alleinigen Lasten der Arbeitnehmer, Arbeitslosen, Rentner, zu sachgrundlosen Gunsten privater, staatlicher Arbeitgeber, die durch Sankrionierung unter Existenzminimum bei Hartz 4 Empfängern amtlich mit Brief und Siegel bestallt zum durchgeknallten Hebel der Herrschaft des Unrechts im Arbeitsmarkt geworden sind, indem Hartz 4 Empfänger, Austocker, neben anderen auf prekären Arbeitsplätzen wiederum zum Hebel instrumentalisiert sind, die 2, 3 Klassengesellschaft in Betrieben, staatlichen, kommunalen Einrichtungen zum Alltag werden zu lassen und zum Frohlocken dazu für vordemokratisch eingestellte Arbeitgeber als Abrissbirne für Kündigungsrecht, betriebliche Mitbestimmung, Demokatie in Betrieben, staatlichen, kommunalen Einrichtungen, Stiftungen. Erzeihung, Bildung, Ausbildung, Lehre, Forschung platziert bleiben.

    Dieses Denken im Kleinen halte ich für vergeblichw Mühen. Dabei braucht es nur einen kleinen Schritt mit großer Wirkung, die Revison des Paradigmenwechsels, der durch die Agenda 2010/Hartz 4 Gesetze vollzogen wurde, weg von sachgrundloser Lohnsubvention für private, staatliche Arbeitgeber zu einseitigen Lasten der Arbeitnehmer, zu Gunsten des Hegens, Pflegens von Bürokratie Monstern, mit der Folge verheerender Verwilderung und Verwahrlosung betrieblicher Innovationskultur, zurück zu begründeten Anträgen von Arbeitgebern auf befristete Lohnsubvention bei Vorlage von Businessplänen und professionellem Controlling, unserer Gesellschaft, Politik und Wirtschaft neue Innovationskraft zu verleihen. Glück Auf.

  • 1 000 EUR einfach so für jeden, warum nicht? Das werden jetzt wahrscheinlich einige sagen die Herrn Habecks Vorschlag gehört haben. Andere werden wettern, es wäre Geld fürs nichtstun.



    Aber warum denn bitte nicht? Ich habe mehr als 1 000 EUR, würde also nichts bekommen. Meine Mutter die dieses Jahr in Rente geht, würde sich über 1 000 EUR freuen. Deswegen bin ich dafür über so eine Lösung wenigstens nachzudenken.



    Ich bin auch nicht der Meinung, dass die Zahl derjenigen die dann nicht arbeiten wollen, durch diese 1 000 EUR höher wird. Es gibt schließlich auch Harz-4-Empfänger die mit dem Regelsatz zufrieden sind. (Und natürlich auch Leute die trotz Arbeit noch Hilfe vom Staat brauchen.)



    Vielleicht sollte man unsere Lohn- und Sozialsystem so umbauen, dass jeder in Deutschland, auch min. 1 000 EUR raus hat...

    Und die SPD will also Harz 4 hinter sich lassen.



    Über Harz wird gestritten seit es eingeführt wurde. Und seit mindestens 10 Jahren ist der Tenor der SPD einhellig: "Das mit Harz 4 tut uns leid, es war zwar richtig für das Sozialsystem. Aber jetzt müssen wir was ändern."



    Und dieses "etwas" ist, auch seit 10 Jahren: Vor Wahlen groß von Gerechtigkeit reden und dann nichts ändern.



    Das ist auch der Grund, warum die SPD bei der letzten Wahl so viele Stimmen verloren hat. Nicht weil Soziale Gerechtigkeit nicht wichtig ist, sondern weil die SPD nicht wie eine Partei wirkt, die da wirklich etwas ändern will.



    Die Grünen machen wenigstens Vorschläge...

  • 8G
    80336 (Profil gelöscht)

    "Die SPD steht für ein Recht auf Arbeit – und nicht für bezahltes Nichtstun“.

    Ich lach mich weg. Handelt es sich bei dem Satz um eine Folgeerscheinung der "Funktion von Katastrophen im Serien-Liebesroman"? Seit wann bemüht sich die SPD darum, das Recht auf Arbeit ins GG aufzunehmen?

    Und was heißt da, die SPD stehe für "bezahltes Nichtstun" nicht ein? War es nicht so, dass die Vermittlung von Arbeit nicht mehr von der dafür zuständigen Behörde zu leisten war, was deren Kerngeschäft ist, und wofür auch die Gehälter aus den Abgaben des Staatsvolks gezahlt wurden, sondern dass diese Dienstleistung stattdessen von mehr als 6.000 gewinnorientierten Firmen angeboten wurde, woraus diese jährlich einen Umsatz von mehr als 19 Milliarden Euro generierten, indem sie ihre 856.195 unterschiedlichen Waren (Arbeit suchende Menschen, welche die Unternehmen auch noch unentgeltlich bezogen) an Interessenten verkauften?

    Zudem belegt eine Reihe wissenschaftlicher Feldstudien zwischen 1969 und 1982 das Ausmaß an vorhandener Inkompetenz bei dem Satz der SPD-Chefin. Es ist wissenschaftlich nachgewiesen und dokumentiert, dass bei unbedingtem Grundeinkommen unter existenzsichernden Bedingungen allein erziehende Mütter ihre Arbeitszeit zwischen 12 und 28 Prozent verringerten, während die meisten Männer einfach wie vordem weiterarbeiteten. Dafür sank die Scheidungsrate signifikant, und auch die Schulergebnisse von Kindern der Versuchsgruppe änderten sich :

    oxnzeam.de/2016/04...-radfahrerprinzip/

    Ein kleiner Nachhilfekurs im Fach "Grundrechnen" schafft Klarheit, wo Nichtstun aufzufinden ist :

    www.algorithmics.i.../de/tag/notbedarf/

  • Die ganzen Grundeinkommen-Experimente sind ziemlich sinnlos. Viel zu kleine Test-Gruppe, die Auszahlung erfolgt nur für einen begrenzten Zeitraum, Auswirkungen auf die Gesellschaft/Jobs lassen sich nicht mal ansatzweise daraus ableiten.

    Da müsste man zumindest mal ein paar Landkreise als Testgebiet erklären, mehrere Milliarden Euro in die Hand nehmen und das Ganze 10+ Jahre laufen lassen, um einigermaßen aussagekräftige Ergebnisse zu bekommen. Und selbst dann wäre die bundesweite Einführung ein Wagnis, weil man globale Auswirkungen gar nicht abschätzen kann.