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Sozialpolitik in BerlinKurz vor dem Kollaps

Statt Entlastung wegen des Fachkräftemangels erwartet die sozialen Berufe Kürzungen in Millionenhöhe. Der Protest ist groß.

Auch ohne Kürzungen steht die soziale Arbeit unter Druck, etwa durch den Fachkräftemangel Foto: Stefan Boness/ipon

Berlin taz | Eigentlich sei Jugendsozialarbeit in Neukölln wichtiger denn je, berichtet Osman Tekin. „Die Pandemie hat viel verändert.“ Viele Jugendliche fühlten sich in der Zeit nicht gehört, die Hemmschwelle für Gewalt sei bei vielen gesunken, das habe sich nicht nur in der Silvesternacht gezeigt. Seit 17 Jahren arbeitet der Sozialarbeiter in der Jugendfreizeiteinrichtung Manege auf dem Neuköllner Rütlicampus.

Vor allem Kinder aus problematischen Familienverhältnissen fänden dort sinngebende Freizeitbeschäftigungen und ein stabilisierendes soziales Umfeld. Doch ob Tekin seine wichtige Arbeit auch nächstes Jahr ausführen kann, ist ungewiss.

Wer protestiert?

Linke Neukölln Unter dem Motto „Stoppt die Kürzungen“ veranstaltet der Bezirksverband eine Protestkundgebung mit Sozial­ar­bei­te­r:in­nen. Mittwoch, 5. Juli, 17 Uhr, Rathaus Neukölln.

Neuköllns So­zi­al­ar­bei­te­r:in­nen Um die Sitzung des Jugendhilfeausschusses kritisch zu begleiten, veranstaltet ein Bündnis von So­zi­al­ar­bei­te­r:in­nen eine Kundgebung. Donnerstag, 6. Juli, 17 Uhr, Rathaus Neukölln.

AWO-Beschäftigte Im Tarifkonflikt streiken Er­zie­he­r:in­nen für einen höheren Lohn, einige Kindertagesstätten sind geschlossen. Mittwoch, 12. Juli, 8.30 Uhr, Blücherstraße 62.

Angesichts der angespannten Haushaltslage drohen auch dem sozialen Bereich Kürzungen von Geldern in Millionenhöhe. Während im Vorfeld der Haushaltsverhandlungen noch keine Details bekannt sind, preschte Neuköllns Bürgermeister Martin Hikel (SPD) bereits mit einer Liste vor, die deutliche Kürzungen im sozialen Bereich ankündigte. Unter anderem will Hikel bis zu drei Jugendfreizeiteinrichtungen schließen, sollte den Bezirken in den Haushaltsverhandlungen nicht deutlich mehr Geld zugeschlagen werden. Dabei fehlen schon jetzt Hunderte Fachkräfte in dem Bereich; viele Beschäftigten können die Aufgaben schon jetzt kaum bewältigen.

Wie hoch die Kürzungen ausfallen werden, steht noch nicht fest. Den ersten Entwurf für den Haushaltsplan 2024/2025 will der Senat erst kommenden Dienstag vorstellen. Dass es zu drastischen Einsparungen kommen wird, gilt jedoch als gesichert. Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe sprach bei einem Pressetermin vor zwei Wochen von einem bis zu 30 Prozent niedrigeren Budget ihrer Senatsverwaltung im Vergleich zu den Vorjahren.

Alle freien Träger haben gerade Angst

Osman Tekin, Sozialarbeiter

Ebenfalls unwahrscheinlich ist, dass der CDU-Finanzsenator Stefan Evers den Bezirken, die etliche soziale Angebote finanzieren, noch weiter entgegenkommt. Diese hatten ein Haushaltsdefizit von insgesamt 250 Millionen Euro gemeldet. Evers teilte am Freitag mit, weitere 100 Millionen bereitstellen zu wollen, ausreichen wird die Summe wohl kaum.

„Alle freien Träger haben gerade Angst“, berichtet Tekin. Betroffen sei die gesamte soziale Infrastruktur des Bezirks, zu der neben Jugendarbeit auch Angebote wie die Drogenberatung und Obdachlosenhilfe gehöre. In der Regel sei die Finanzierung für viele Projekte und die damit verbundenen Stellen nur auf ein Jahr befristet, erklärt Tekin. Die Ungewissheit, ob und wie es im nächsten Jahr für sie weitergeht, stellt für viele Kol­le­g:in­nen eine zusätzliche Belastung dar. „Die Teammitglieder sind alle unheimlich erschöpft“, sagt Tekin.

Die Kürzungen droht die schwelende Krise im sozialen Bereich weiter zu eskalieren. Ob Kita-Er­zie­he­r:innen, Sozialarbeiter:innen, Hort-Betreuer:innen oder Street­worker:innen, sie alle schlagen seit Jahren Alarm. Sie klagen unisono über steigende Arbeitsbelastungen, Personalmangel und mangelnde Projektfinanzierungen.

Dass sich die Krise nicht nur auf die Jugendarbeit in Neukölln beschränkt, wurde auch am Dienstagvormittag vor der Senatsverwaltung für Bildung, Familie und Jugend am Alexanderplatz klar. Die Arbeitsgemeinschaft Weiße Fahnen hatte zusammen mit der Bildungsgewerkschaft GEW und dem Berufsverband für Soziale Arbeit (DBSH) mobilisiert, um auf die Notlage in der Kinder- und Jugendhilfe aufmerksam zu machen.

Das Personal in den Jugendämtern und Hilfseinrichtungen sei überlastet, unterbesetzt und unterbezahlt, kritisieren die Or­ganisa­to­r:in­nen der Demo. Die Kol­le­g:in­nen vom Jugendamt seien selbst bei Notfällen manchmal gar nicht mehr zu erreichen, berichten drei Mitarbeiterinnen eines Familienzentrums.

Harith Krenitz von der Arbeitsgemeinschaft Weiße Fahnen kann die Schilderungen bestätigen: Erst am vergangenen Freitag habe bei ihrer Einrichtung eine überforderte Mutter um Hilfe für ihre vier Kinder gebeten. „Wir haben unsere ganze Liste durchtelefoniert, es war nirgendwo ein Platz für die Kinder zu finden“, erzählt sie. Die Kinder seien dann erst mal bei der Mutter geblieben. Als später wenigstens ein einzelner Platz frei wurde, habe man die Kinder trennen müssen, erzählt Krenitz.

Jugendstaatssekretär Falko Liecke (CDU) sprach nach der Demo mit den Demonstrierenden und sagte zu, am für Anfang Oktober geplanten Kinder- und Jugendhilfegipfel teilzunehmen. Während die Demonstrierenden die bis zu 100 unbesetzten Stellen in den Jugendämtern mit schlechten Arbeitsbedingungen erklären, sieht Liecke sie im Fachkräftemangel begründet.

Das beste Mittel gegen Fachkräftemangel sei eine angemessene Bezahlung, findet die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Auf einer Pressekonferenz am Dienstag kündigte Verdi einen Warnstreik für kommenden Mittwoch in den Tarifverhandlungen mit der Arbeiterwohlfahrt Berlin an, einem freien Träger, der zahlreiche Kitas betreibt.

Die rund 100.000 Beschäftigten der freien Träger würden immer noch deutlich weniger verdienen als ihre nach dem Tarifvertrag der Länder (TVL) bezahlten Kolleg:innen, kritisiert Funktionärin Jana Seppelt. Bis zu 600 Euro Brutto verdienten manche Beschäftigte weniger – und das bei gleicher Arbeit. Eine Summe, die viele Beschäftigte bitter nötig hätten. „Die Inflation der letzten Jahre hat viele in Bedrängnis gebracht“, erklärt Seppelt.

Um den Abstand zu den TVL-Beschäftigten zu verringern, fordert Verdi 13,5 Prozent mehr Gehalt. Nur so ließe sich die Spirale aus Personalmangel, sich verschlechternden Arbeitsbedingungen und Kündigungen brechen.

Für die Lohnerhöhung müsste in erster Linie das Land Berlin aufkommen, welche die freien Träger finanziert. Sich mit der angespannten Haushaltslage rauszureden, will Seppelt allerdings nicht gelten lassen. Der Senat sei dafür verantwortlich, ausreichend Geld für die Sozialsysteme der Stadt bereitzustellen. „Wir werden die Haushaltsverhandlungen kritisch und mit weiteren Aktionen begleiten.“

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