Sozialisten in den USA: „Ein Kampf von unten nach oben“
Die Democratic Socialists of America (DSA) sind die größte sozialistische Organisation der USA. Ein Gespräch über die Arbeiterklasse von heute.
taz: Herr Stephens, Sie sind im Vorstand der DSA. Was ist für Sie sozialistische Politik im 21. Jahrhundert?
R. L. Stephens: Die Frage habe ich mir auch oft gestellt. Doch am Ende kann man sie nur gemeinsam beantworten, deswegen habe wir eine Kampagne namens Basisbildung ins Leben gerufen. Wir versuchen Menschen, die denken wie wir, in unsere Ortsgruppen einzuladen und gemeinsam mit ihnen zu entscheiden, womit wir uns beschäftigen werden. Je diverser diese Diskussion geführt wird, desto ehrlicher wird am Ende unser Konzept vom Sozialismus sein. Das muss ein Prozess von unten nach oben und nicht umgekehrt sein.
Können Sie ein Beispiel geben?
Stephens: Wir entwerfen nicht nur einen neuen Plan, wie eine Krankenversicherung aussehen könnte, sondern wir hören uns unterschiedliche Ideen an, bringen Menschen zusammen. Wir entwickeln zusammen aber mehr als nur unser Konzept einer Krankenversicherung. Wir lassen kollektive Gegenmacht entstehen. Auch das ist schon eine Klassenfrage. Die Arbeiterklasse setzt sich aus verschiedenen sozialen Milieus zusammen und wir wollen uns von Anfang an so organisieren. Es geht um Gender und Race, es geht aber auch darum, wo Menschen leben, ob in Städten oder auf dem Land, auf einem Campus oder in einem Armenviertel.
Frau Alcazar, Sie gehören zu den Zehntausenden, die im letzten Jahr neu in die DSA eingetreten sind. Warum?
Magally „Maga“ Alcazar: Ich habe mich schon während des Bernie-Sanders-Wahlkampfs für die DSA interessiert, damals sind ja schon viele eingetreten. Ich war aber noch abgeschreckt, schließlich ist die DSA eine Organisation für weiße Menschen aus der Mittelschicht. Ich selber komme aus der Arbeiterklasse, meine Vorfahren kommen aus Mexiko. Ich hatte das Gefühl, das ist nichts für mich.
Wer? Mit 30.000 Mitgliedern (Stand: Oktober 2017) ist die DSA die größte und am schnellsten wachsende sozialistische Organisation in den USA. Die Mitglieder kommen aus allen Bereichen der USA, ihre Zahl hat sich seit der Präsidentschaftswahl vervierfacht.
Wann? Die DSA wurde 1982 gegründet und ist offiziell keine Partei und nicht im Bundeswahlregister aufgeführt.
Was? Sie lehnen das kapitalistische Wirtschaftssystem ab und setzen sich unter anderem für die Rechte von Arbeitnehmer*innen, Feminismus und eine staatliche Krankenversicherung für alle ein.
Was hat sich dann geändert?
Alcazar: Ich habe mitbekommen, welche Themen eine Rolle spielen, aber auch wie die DSA-Mitglieder das Leben der Menschen konkret verbessern. Es gibt zum Beispiel eine Street-Watch-Kampagne. Ein paar Leute beobachten die Straßen in Armenvierteln und reagieren sehr schnell, wenn die Polizei anrückt, um zum Beispiel Obdachlosencamps zu räumen. Oder sie geben Workshops, in denen sie erklären, wie man Konflikte klärt, ohne die Polizei zu rufen. Da wo ich herkomme, hat es schließlich weitreichende Folgen, wenn die Polizei kommt. Gleichzeitig führen sie aber auch strategische Diskussionen und fragen sich, welche Rolle eine sozialistische Organisation in Amerika heute spielen kann. Die Mischung hat mich angesprochen.
Haben Sie sich davor auch schon politisch engagiert?
Alcazar: Ich bin schon länger in der Mietenbewegung in Los Angeles aktiv. Es steht bei uns wirklich schlecht um die Rechte der Mieter, aber die Anti-Gentrifizierungs-Bewegung ist ein Hoffnungsschimmer, sie ist groß und sehr gemischt. Ich finde aber auch, dass das alleine nicht reicht, um wirklich etwas zu ändern. Wir müssen nicht nur die Miete in Frage stellen, sondern auch den Kapitalismus.
ist erst vor Kurzem in die DSA eingetreten. Sie ist aktiv in den Mietenprotesten und ist Mitorganisatorin des Internationalen Frauenstreiks.
Eine wichtige landesweite Aktion, die am 8. März ansteht, ist der internationale Frauenstreik, den die DSA mitorganisiert. Wie gehen Sie das an?
Alcazar: Gerade organisieren wir ein breites Bündnis aus traditionellen Gewerkschaften, wie zum Beispiel Lehrergewerkschaften. In vielen Gemeinden gibt es Treffpunkte für Arbeiter, viele von ihnen sind prekär und unorganisiert, mit denen arbeiten wir auch zusammen. Organisationen wie „Pussy Strikes Back“ und feministische Anti-Trump-Organisationen sind, wie im letzten Jahr, auch wieder dabei. Es gibt viele unorganisierte Frauen, die durch #metoo politisiert wurden, die mitmachen, außerdem viele sozialistische Organisationen, Gruppen, die für einen Mindestlohn kämpfen, oder Studierende.
hat in Chicago Jura studiert und lebt zurzeit in Texas. Er sitzt im gewählten Vorstand der DSA und kümmert sich dort vor allem um eine neue politische Strategie.
Und wie wird der Streik konkret aussehen?
Alcazar: Frauen arbeiten in Amerika zu 80 % in prekären Arbeitsverhältnissen. Der klassische Fabrikstreik fällt also weg. Wir denken über Mischformen aus Arbeits- und Reproduktionsstreiks, Boykotten und Blockaden nach.
Stephens: Unsere Kämpfe müssen unsere Vorstellung einer Arbeiterklasse von heute widerspiegeln; und so widersprüchlich es ist, kann Arbeit alleine eben nicht das verbindende Moment einer kämpferischen Klasse im heutigen Amerika sein. Einfach, weil so viele Menschen heute keine Arbeit mehr finden, und darunter sind eben vor allem Frauen. Das heißt, Arbeit spielt immer noch eine große Rolle, aber die Organisation kann auch rund um andere Fragen passieren. LGBTIQ-Menschen haben andere Probleme als Bauern, trotzdem gehören sie zur unterdrückten Klasse. Wir müssen offen sein. Eine Frau, die zu Hause mit ihrem Baby sitzt, muss sich genauso organisieren können wie jemand in einem Call-Center. Studierende sind wirklich wichtig, denn die meisten haben heute hohe Schulden, wenn sie aus der Universität kommen. Ich zum Beispiel! Ich habe Zehntausende Dollar Schulden.
Wollen Sie eigentlich eine Partei werden? Eine linke Alternative zu den Demokraten?
Alcazar: Ich glaube, wenn die DSA weiterwächst, wird das eine Diskussion sein, die wir führen müssen. Sie schwelt auch schon, aber es ist noch nicht die Zeit dafür.
Stephens: Ich persönlich finde es wichtig, dass die DSA nicht nur unabhängig von der Demokratischen Partei bleibt, sondern auch unabhängig vom Parlament selbst. Ich glaube nicht, dass im Kapitalismus eine linke Regierung möglich ist. Schauen Sie sich nur Syriza in Griechenland an. So wird es allen gehen!
Warum haben Sie sich eigentlich die DSA ausgesucht? Es gibt zahlreiche sozialistische Organisationen in den Vereinigten Staaten, die man von innen heraus ändern könnte.
Alcazar: Wir sind ja nicht die einzige sozialistische Organisation, die wächst. Das ist ein allgemeiner Trend im ganzen Land!
Stephens: Die basisdemokratische Struktur der DSA hat eine große Rolle gespielt: Uns war klar, dass wir hier unsere Politik von unten aufbauen können. Viele können mitmachen, auf nationaler Ebene in den Versammlungen, auf lokaler Ebene in den Ortsgruppen. Die DSA ist bis zu einem gewissen Grad offen für Nichtmitglieder. Und der Mitgliedsbeitrag ist extrem günstig. Bei vielen anderen Gruppen muss man sich sogar bewerben!
Legen Sie eigentlich in allen Gegenden in Amerika an Mitgliedern zu?
Alcazar: In großen Städten wie New York oder Los Angeles gibt es mittlerweile zahlreiche Gruppen in jedem Bezirk. Gerade nach den Vorfällen in Charlottesville haben wir viele neue Mitglieder bekommen, die etwas gegen die Rechte unternehmen wollen. Nicht nur junge Leute. In Charlottesville selber sind 60-jährige aufgetaucht und haben gesagt: „Mir reicht’s! Ich will was machen!“
Stephens: Es gibt viele neue Mitglieder, die noch gar nicht in Gruppen organisiert sind. Ich versuche gerade herauszufinden, was die Gründe dafür sind, ob sie in abgelegenen Gegenden wohnen, ob sie Hemmungen haben oder ob ihnen die Themen nicht zusagen.
Wie stehen Sie überhaupt zu den Antifa-Gruppen, die sich überall im Land gründen?
Alcazar: Ich finde das großartig. Wir müssen uns noch viel mehr mit der Politik der extremen Rechten auseinandersetzen. In Kalifornien gibt es zum Beispiel die Minute Men, eine rechtsextreme Organisation, die seit Jahren in lokalen Regierungen in Kalifornien sitzt und durchgesetzt hat, dass Menschen ohne Papiere, also Illegale, nicht mehr zum Arzt gehen können oder dass ihre Kinder nicht in die Schule dürfen. Wir reden über die Alt-Right, als wären sie ein neues Phänomen, aber wir haben sie nur zu lange nicht ernst genommen. Sie sind jetzt eben auch auf nationaler Ebene aktiv.
Fühlen Sie sich manchmal hoffnungslos, seit Trump im Amt ist?
Alcazar: Eigentlich nicht. Es gibt genug Grund zur Hoffnung. Vor ein paar Monaten war ich mit ein paar Genossen aus der DSA bei einem Aufmarsch der Alt-Right in Chicano Park in San Diego und wir haben sie vertrieben. Ich finde es wichtig und gut, dass Richard Spencer einen auf die Nase bekommen hat. Es ist wichtig, dass wir auf jeder Ebene Widerstand leisten und neue Ideen entwickeln. So schlimm es gerade unter Trump ist, so großartig ist die Solidarität. Gruppen, die früher verfeindet waren, arbeiten jetzt zusammen. Die Stimmung ist nicht schlecht. Es bewegt sich was. Wir bewegen uns.
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