Sozialer Aufstieg: Zu Besuch in der Mittelschicht
Aus kurzen Stippvisiten in der Mittelschicht wurde ein permanenter Besuch. Doch seine Klasse kann man nicht wechseln, wie es einem beliebt.
I ch bin heute Mittelschicht und Mittelschicht sind immer noch die anderen.
Mittelschicht war als Kind der Besuch bei Schulfreunden: das matte Wildledersofa, die Plattensammlung des Vaters, mächtige Massivholztische. Als Teenager waren es die Besuche bei meiner Freundin: das Grillen mit vielen verschiedenen Salaten, der Tatort, den man sonntags zusammen geschaut hat.
Bei uns zu Hause stand ein Couchtisch, den jemand zur Sperrmüllzeit vor den Toren seines wohl gepflegten Gartens entsorgt hatte. Weil er noch vier Beine und eine Platte hatte, qualifizierte er sich für unser Wohnzimmer. Wenn wir grillten, gab es keine Salate, sondern ein paar Kilo Hähnchenflügel mit Fladenbrot. Meine Mutter, die das Fleisch marinierte, und mein Vater, der es grillte, hatten eine Priorität: Hauptsache, die Kinder werden satt.
Gemeinsam aßen wir selten. Vielleicht gab es keine Zeit für schönes Beisammensein. Vielleicht deshalb, weil alle permanent für ein besseres Leben gearbeitet haben – für den Aufstieg in die Mittelschicht. Ohne Fleiß kein Preis. Schaffe, schaffe, Häusle baue: Was die Arbeitsethik anging, waren wir Anatolier schwäbischer als die Schwaben, die uns umgaben.
Es gibt kein Zurück
Nach dem Abitur wurde der Besuch in der Mittelschicht permanent. Ich studierte mit Kindern von Anwälten und Lehrern. Ich zog mit ihnen zusammen und sie stellten stilvolle Kommoden auf und bestellten Fairtrade-Kaffee von einem anarchistischen Kollektiv in Mexiko. Wir lasen Bücher, diskutierten, demonstrierten gegen den Kapitalismus. Über dessen Resultat, unsere unterschiedliche Herkunft, sprachen wir kaum.
Das hat mich damals nicht gestört. Es hat vieles sogar einfacher gemacht. Heute kann ich darüber schreiben, dass ich aus der Arbeiterklasse mit funktionalen Möbeln und funktionalem Grillen komme.
In der Mittelschicht bin ich gelandet, weil ich viel Glück hatte. Aber es ist auch die Belohnung für die harte Arbeit meiner Eltern. Das Ergebnis familiärer Anstrengung, Disziplin, Anpassung. Trotzdem ist mir diese Mittelschicht noch kein Zuhause, ökonomisch und kulturell. Mal abgesehen davon, dass ich ihre moralische Erhabenheit oft abstoßend finde. Während manche hier beschäftigt, wie viel Geld sie noch von ihren Eltern bekommen, beschäftigt mich, wie viel Geld ich meinen Eltern zurückgeben kann.
Vor zwei Jahren bin ich aus meiner Kreuzberger WG in den Wedding gezogen. Die Frauen hier mit den Einkaufstüten und Sonnenblumenkernen sehen aus wie meine Mutter früher; die Männer mit den Kaffeebechern und Arbeitskleidung wie mein Vater früher; die Jungs, die nach der Schule auf der Straße Fußball spielen, wie meine Brüder und ich früher. Aber es gibt kein Zurück in dieses Früher. Der Wedding ist keine schwäbische Kleinstadt und seine Klasse kann man nicht wechseln, wie es einem beliebt.
Ich bin immer noch nicht Mittelschicht, aber Mittelschicht sind nicht mehr nur die anderen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei