Soziale Netzwerke und die Folgen: „Was macht Facebook mit uns?“
Lilian Masuhr hat mit bluestory.de eine Website ins Leben gerufen, auf der Geschichten erzählt werden, die ohne das soziale Netzwerk nie passiert wären.
taz: Frau Masuhr, Sie schreiben auf bluestory.de: „Liebes Facebook, seit 10 Jahren bin ich in Dich verliebt.“ Geht es Ihnen wirklich so?
Lilian Masuhr: Die 10 Jahre kommen daher, weil es Facebook mittlerweile so lange gibt. Aber sonst ist das ja eine fiktive Lilian, die da schreibt: „Ich wache morgens auf, und manchmal bin ich direkt am Rechner dran, noch bevor ich mir einen Kaffee mache.“ Weil das ja viele Leute auch so machen. Das heißt: Man ist so nah mit einer Sache, als ob es eine Person wäre. Und man will unbedingt wissen, was da alles passiert, dass es fast wie ein Verliebtsein ist: Man will alles miteinander teilen, man hat diese Glücksgefühle und es hat so einen wahnsinnigen Stellenwert, und es ist ja auch die ganze Zeit in unseren Gedanken.
Auch in Ihren?
Ich habe da eine Entwicklung durchgemacht: Ich war am Anfang sehr fasziniert von Facebook, denn ich mag es, mich auszutauschen. Aber ich habe sehr schnell für mich entdeckt, was mir da gefällt und was nicht. Ich würde zum Beispiel keine zu persönlichen Sachen erzählen, sondern mache mehr auf der neutralen, informativen Ebene. Ich habe auch Zeiten, wo ich so gut wie nie auf Facebook bin, am Wochenende zum Beispiel. Und ich gehe auch mit meinem Smartphone nur selten ins Internet.
Wie kamen Sie auf die Idee, ausgerechnet über die Webseite Facebook eine Webseite zu machen?
Mir schwirrte schon lange die Frage im Kopf: Was macht Facebook eigentlich im Alltag mit uns? Mit Freunden und Bekannten habe ich darüber unglaublich viele Gespräche geführt. Im Januar gab es dann die Konferenz „Einbruch der Dunkelheit“ in der Volksbühne, da ging es um Snowden und die NSA. Viele Wissenschaftler, Aktivisten, Experten für Netzpolitik waren da, und alle sagten am Ende: Wir müssen jetzt was machen, wir müssen unsere Daten schützen! Aber wir sind ja immer noch weiter auf Facebook – und das blieb dann so im Raum stehen. Dann kam zufällig auch noch das zehnjährige Jubiläum von Facebook, und da dachte ich: Jetzt müssen wir, bevor die Leute doch letztendlich aus Facebook austreten, noch schnell alle Geschichten sammeln, die wir dort erleben!
Was macht Facebook für Sie so interessant?
Ich bin seit sechs Jahren bei Facebook, und bei meiner aktuellen Arbeit für Leidmedien.de bin ich quasi auch Social-Media-Managerin, wie man das so nennt. Da nutze ich Facebook als Raum, um Menschen mit und ohne Behinderung zusammen zu bringen, und finde das eine große Chance. Vielleicht habe ich durch mein Kulturwissenschaftsstudium angefangen, auch nochmal die Metaebene zu reflektieren. Und es ist mir einfach aufgefallen, dass in jedem Gespräch, das ich mit irgendwem führe, Facebook immer das Thema ist, immer! Und es stellen sich durch Facebook natürlich ganz neue Fragen.
Seit Anfang dieses Jahres sammelt Lilian Masuhr auf bluestory.de Geschichten, in denen das soziale Netzwerk Facebook eine Rolle spielt. Außerdem gibt es Videos, Texte von anderen Medien und kurze Gedanken, die sich kritisch mit Apps, sozialen Netzwerken und ihrer Wirkung auf unser alltägliches Leben auseinandersetzen.
Die Macherin Lilian Masuhr (29) ist Journalistin und arbeitet seit zwei Jahren für die NGO "Sozialhelden". Dort ist sie Projektleiterin von Leidmedien.de - einer Webseite, die sich kritisch mit der Berichterstattung über Menschen mit Behinderungen auseinandersetzt. Nebenbei studiert sie Kulturwissenschaft und französische Philologie an der Uni Potsdam.
Welche denn?
Mein Exfreund und ich, zum Beispiel, wir haben uns nach der Trennung auch auf Facebook die Freundschaft gekündigt, aber gleichzeitig haben wir immer noch 50 gemeinsame Freunde. Unsere Freunde kriegen jeweils das aus dem Leben der oder des einen mit, aber wir nicht voneinander. Und das gab es halt früher nicht. Früher hat man den Exfreund vielleicht irgendwo getroffen, aber auf Facebook kriegen jetzt alle meine Freunde jeden Tag mit, was er macht. Und das ist irgendwie absurd: Der Schnitt ist da, zwischen ihm und mir, aber nicht zwischen allen Freunden. Und ich würde auch nie sagen: Hey, kündigt dem mal die Freundschaft oder so!
Auf Ihrer Webseite sammeln Sie Geschichten, die ohne Facebook so nicht passiert wären. Welche ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Eine, wo ein Mädchen eigentlich bloß einem alten Freund, mit dem sie schon länger keinen Kontakt mehr hatte, auf Facebook zum Geburtstag gratulieren wollte. Also schreibt sie ihm an die Pinnwand. Als sie am nächsten Tag wieder auf Facebook ist, hat sie eine private Nachricht von einem Unbekannten: Er schreibt, das Geburtstagskind sei schon Anfang des Jahres gestorben, in der Dusche gestürzt. Das ist natürlich ziemlich heftig.
Was sind das für Menschen, die Ihnen solche Geschichten schicken?
Die meisten wollen anonym bleiben, auf Wunsch ändere ich auch den Namen. Aber ich habe jetzt auch drei Leute gehabt, Freunde und Bekannte von mir, die gesagt haben: Ich möchte es mit meinem Namen. Die teilen es dann wieder auf ihren Kanälen. Ich glaube, jede und jeder einzelne kann eine Blue Story erzählen. Das sind ja keine großen Romane, sondern Situationen, die jede und jeder mal erlebt hat.
Sind Sie manchmal erstaunt, wie freimütig Menschen über sehr intime Sachen erzählen, sobald es auf Facebook passiert?
Ja. Und witzig ist, dass die Leute, die jeden kleinen Gedanken, den sie haben, auf Facebook posten, diejenigen sind, die mir keine Blue Story schreiben wollen. Die, die die ganze Zeit da drin sind, schaffen es also nicht, rauszutreten. Oder sie wollen es einfach nicht.
Wenn Sie Leute auffordern, Ihnen Geschichten zu schicken, machen Sie damit nicht genau dasselbe wie Facebook: Intimität ins Öffentliche tragen?
Es ist ja in dem Sinne nicht ganz so intim, weil es anonym ist. Und es ist ja nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Leben einer Person. Namen anderer Leute werden auch nicht erwähnt. Dadurch geht es eher um das Gefühl und die Situation, die Atmosphäre, die Gedanken – die ja lustigerweise so viele von uns haben! Wenn ich selbst diese Geschichten lese, denke ich manchmal: Das ist mir auch schon mal passiert! Und das ist eigentlich das, was ich möchte: dass man nicht so das Individuelle sieht, sondern sich selber wiedererkennt und sagt: Da geht’s mir genauso wie der oder dem anderen.
Haben Sie nicht Angst davor, dass Sie mit bluestory.de letztendlich selbst Werbung für Facebook machen?
Nein. Die Geschichten sind bisher meist eher negativ – da geht es viel um Sachen, die Leute sehr bewegt haben, und die eben nicht Facebook glorifizieren. Neben den Geschichten sammle ich auch Artikel und Videos, die kritisch sind. Mich hat mal jemand per E-Mail gefragt, der nicht bei Facebook arbeitet, ob ich Lust habe, für Facebook zu arbeiten, und ob es das ist, was ich eigentlich will. Das ist aber gar nicht meine Absicht. Mir geht es darum, diese Geschichten zu sammeln, die eigentlich die Gefühle von Menschen zeigen, wenn sie auf Facebook sind. Facebook hat selber auch eine Webseite, wo Geschichten gesammelt werden, und ich möchte mich echt davon abgrenzen, weil die Geschichten, die dort erzählt werden, Erfolgsstorys sind: wie Facebook geholfen hat, Menschen wieder zusammenzubringen, zum Beispiel. Ich dagegen will die Alltagsgeschichten, die kleinen Emotionen, die kleinen Begegnungen zeigen.
Also haben Sie eine Mission?
Nein, gar nicht! Und wenn ich ein Video poste, heißt das auch nicht, dass ich das gut finde. Ich sammle das einfach und stelle das zur Diskussion. Ich fühle mich da eher wie eine Kuratorin.
Wie soll es mit bluestory.de weitergehen?
Ich möchte auf jeden Fall noch viel mehr Geschichten sammeln. Und ich wünsche mir, dass mehr Leute von dem Projekt erfahren, damit auch unterschiedlichste Leute und nicht nur Menschen, die ich auch irgendwie kenne, Geschichten schreiben. Geld verdienen will ich damit auf jeden Fall nicht. Das ist für mich einfach eine Sache, die mich interessiert. Es kann auch sein, dass das Projekt irgendwann vorbei ist. Aber die Idee ist da, das Projekt steht da, die Geschichten sind gesammelt, darum geht es eigentlich, und im Moment glaube ich noch nicht, dass es aufhört. Selbst ich könnte wahrscheinlich noch ganz viele Geschichten erzählen, die ich irgendwann noch alle aufschreiben werde.
Und wenn irgendwann keine neuen Geschichten mehr kommen?
Dann soll bluestory.de einfach weiter im Internet stehen. Facebook provoziert das ja so, dass man ständig was Neues bringen muss und sich da fast schon Druck macht. Aber diesen Druck will ich mir gar nicht machen. Die Sachen, die da sind, sind ja auch weiter da.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?