Soziale Folgen von Corona: Kinder in der Krise
Die Maßnahmen gegen Corona treffen arme Kinder besonders. Und je länger Schulen zu sind, desto mehr verfestigt sich die soziale Ungleichheit.
Die Kinder unterstützen die Mitarbeiter aber weiterhin. „Wir verteilen haltbare Lebensmittel und Hygieneartikel in die Familien“, sagt Siggelkow, „der Bedarf ist groß. Es fehlt an allem. Und es kommen täglich neue Familien hinzu.“
Ein warmes Mittagessen ist für viele Kinder und Jugendliche in Deutschland nicht selbstverständlich. Jedes fünfte Kind in Deutschland ist von Armut betroffen. Umso wichtiger sind die kostenfreien Mahlzeiten, die Schulen, Horte, Kindergärten und Jugendzentren anbieten. Doch mit ihrer Schließung im Zuge der Corona-Krise fallen diese wichtigen Glieder in der Versorgungskette weg.
„In Deutschland verhungert kein Kind, aber Kinder werden vermehrt Hunger haben“, sagt Melike Yar von der Kinderrechtsorganisation Save the Children. Die Ernährung werde in vielen Fällen einseitig und wenig abwechslungsreich sein. „Und das gemeinsame Essen als soziales und kommunikatives Element wird in sozial benachteiligten Familien oft unter den Tisch fallen.“
Tafeln machen zu
Es sind vor allem geringverdienende Eltern ohne finanzielle Rücklagen, die derzeit unter Druck geraten. Und der wächst täglich. Über zweihundert Tafeln haben wegen der Ausbreitung des Coronavirus ihren Betrieb vorübergehend eingestellt, andere haben einen Notbetrieb eingerichtet. Für eine halbe Million Kinder und Jugendliche, die als Kunden bei den Tafeln gemeldet sind, bleibt das nicht folgenlos.
„Die finanzielle Ausstattung von Hartz-IV-Empfängern mit Kindern im Haushalt war auch vor der Corona-Krise schon schlecht“, sagt Sozialwissenschaftler Marcel Helbig, Professor für Bildung und soziale Ungleichheit an der Universität Erfurt. „Wenn die Tafeln wegfallen und dadurch Versorgungsengpässe entstehen, zeigt das also ein grundlegendes Problem. Die Tafeln sollen schließlich nicht die Grundversorgung der Menschen abdecken.“
Was?
Aktion Mensch legt angesichts der Coronakrise ein Soforthilfeprogramm in Höhe von 20 Millionen Euro auf.
Für wen?
Das Geld soll unbürokratisch und schnell denen helfen, die besonders schwer betroffen sind: Menschen mit Behinderung etwa oder sozial Schlechtergestellte, die keinen Zugang zu Hilfsangeboten mehr haben. Auch Organisationen wie Tafeln oder Archen können eine Unterstützung von bis zu 50.000 Euro beantragen. (dir)
Wie groß die Auswirkungen der Corona-Krise am Ende seien, hänge auch von der Dauer der Schließungen ab. Flächendeckende Versorgungsschwierigkeiten erwartet der Sozialwissenschaftler nicht. Er sehe aber große Probleme in Hinblick auf die Arbeitsplatzsicherheit von Menschen, die in niedrigqualifizierten Bereichen arbeiten. „Also jenen Menschen, die ohnehin große Probleme haben, ihr Leben zu finanzieren.“
„Wir stehen vor einer noch nie dagewesenen Situation, und keiner weiß, ob sich der Zustand nach den Osterferien normalisiert oder noch Monate anhält“, sagt Uwe Kamp, Sprecher des Deutschen Kinderhilfswerks. Diese Unwissenheit sorge bei vielen einkommensschwachen Familien für große Unsicherheit. „Wenn die kostenfreien Mittagessen wegfallen und gleichzeitig eine gesicherte Versorgung über die Tafeln nicht mehr möglich ist, muss der Staat eingreifen und kurzfristig für Lösungen sorgen“, so Kamp.
Der Druck steigt
Und der Staat handelt: Am Montag hat das Bundeskabinett ein Sozialschutzpaket beschlossen, das am Mittwoch im Bundestag verabschiedet wurde und bereits am kommenden Sonntag in Kraft treten soll. Das soll Menschen den Zugang in die Grundsicherungssysteme vorübergehend erleichtern.
Auch der Kinderzuschlag soll zeitweise an die krisenbedingte Situation der Familien angepasst werden. Doch Menschen, die sowieso schon von Hartz IV leben, hilft das nicht. Bei ihnen steigt der Druck, gerade jetzt, am Monatsende.
Finanzielle Sorgen sind ohnehin ein großer Stressfaktor für einkommensschwache Familien. Doch nun bangen viele Eltern in prekären Arbeitsverhältnissen um ihren Job – und müssen gleichzeitig das Zusammenleben auf engstem Raum organisieren. Damit steigt der Stresspegel für die ganze Familie. „Unsere große Sorge ist, dass sich mit der Dauer der Isolation die häusliche Gewalt in den Familien erhöht“, sagt Melike Yar, „und die Kinder damit sowohl zu Beobachtern als auch zu Opfern häuslicher Gewalt werden.“
Save the Children appelliert an den Staat, die sozialen Hilfen und Beratungssysteme aufrechtzuerhalten. „Es darf nicht sein, dass mit der Verringerung der Ansteckungszahlen die Zahl der Kinderschutzfälle steigt.“
Ausgangssperren würden verschärfen
Der Schutzauftrag des Jugendamts bestehe selbstverständlich weiter uneingeschränkt fort, sagt eine Sprecherin des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. In der gegenwärtigen Situation kämen Online- und Telefonberatungsangeboten eine ganz besondere Bedeutung zu. „Die dort tätigen Beraterinnen und Berater können aufgrund ihrer Fachkenntnisse professionelle Hilfe über Telefon oder im Wege der Onlineberatung bieten.“ Ob das ausreicht, werden die nächsten Wochen und Monate zeigen.
Eines ist sicher: Restriktive Ausgangssperren würden die Situation weiter zuspitzen. Gerade Kinder aus einkommensschwachen Familien verbringen oft viel Zeit draußen. Zu Hause leben sie häufig in sehr beengten Wohnverhältnissen, teilen sich ihr Zimmer vielleicht mit Geschwistern. Allzu oft fehlt den Eltern eine Alltagsstruktur, gerade wenn sie selbst keiner Arbeit nachgehen. Einen Tag kindgerecht zu gestalten, könnte zahlreiche Eltern überfordern, warnt Save the Children.
Auch an konzentriertes Lernen ist unter solchen Umständen kaum zu denken. Ein eigener Schreibtisch, ein Computer, Internetzugang – vielen Familien können sich diese Dinge schlichtweg nicht leisten. Damit haben die Kinder ungleich schlechtere Lernbedingungen, je länger sie zu Hause bleiben. „Studien aus den USA zeigen, dass lange Schulschließungen, die es dort aufgrund der bis zu dreimonatigen Sommerferien gibt, die sozialen Ungleichheiten vergrößern“, sagt auch Sozialwissenschaftler Helbig.
Gut situierte Eltern können derweil Nachhilfelehrer organisieren, Übungsbücher kaufen oder ihre Kinder auf kostenpflichtigen Lernplattformen im Internet anmelden. Dafür fehlt einkommensschwachen Familien das Geld. Auch Flüchtlingsfamilien geraten unter zusätzlichen Druck. Sprach- und Verständigungsschwierigkeiten werden das Lernen zu Hause erschweren. „Zudem sind viele Flüchtlingsfamilien noch im Hartz-IV-Bezug“, sagt Uwe Kamp.
„Solidarisch zusammenrücken“
Deutschland hat es versäumt, die Schulen ans Netz zu hängen und digitales Lernen für alle Kinder zu ermöglichen. In den kommenden Wochen könnte die Beschulung zu Hause für etliche Eltern bereits an der Bereitstellung der Lehrmaterialien scheitern.
„Wenn Schulen längerfristig geschlossen bleiben, sollte der Bund Sonderfonds für die Kommunen erwägen, um Bildungsprogramme für benachteiligte Kinder und Jugendliche zu finanzieren“, sagt Uwe Kamp. Auch könne der Staat beispielsweise mit den Betreibern von Online-Lernplattformen einen kostenlosen Zugang für Kinder im Hartz-IV-Bezug aushandeln.
„Jetzt müssen alle solidarisch zusammenrücken und einen sehr wachen Blick haben, damit kein Kind zurückbleibt“, sagt Kamp. Nicht nur der Staat stehe in der Pflicht, auch Eltern, Schüler und Lehrer müssten wachsam sein, damit sozial benachteiligte Kinder nicht noch weiter abgehängt werden. Solidarität fordert auch Arche-Gründer Bernd Siggelkow. Von dem enormen Spendeneinbruch, den viele soziale Initiativen derzeit beklagen, ist auch die Arche betroffen.
Die Hilfe für die Kinder einzustellen, ist für den Pastor jedoch keine Option. „Wir bleiben mit den Kindern per Whatsapp-Gruppen in Kontakt, rufen sie zweimal in der Woche zu Hause an, fragen, wie es ihnen geht und wie wir sie unterstützen können“, sagt er. Auch virtuelle Lernspiele, Livestreams und Hausaufgabenhilfen werden angeboten.
„Und sollte es Ausgangssperren wie in Italien geben, werden wir Ausnahmegenehmigungen beantragen.“ Schließlich sollen die bereitgestellten Lebensmittel die Kinder irgendwie erreichen. Einen negativen Bescheid werde er nicht akzeptieren, sagt Bernd Siggelkow. „Dann machen wir trotzdem weiter.“
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