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Sommerliche Musiktage HitzackerOrchester im Reagenzglas

"Ins Labor!": Bei den diesjährigen Musiktagen in Hitzacker werden Kompositionen seziert, darf eine Klaviersonate riechen und die Antarktis klingen.

Sounds aus dem Süden: Matthias Kaul, Composer in residence in Hitzacker, vertont unter anderem Klangmaterial aus der Antarktis. Bild: dpa

"Ins Labor!" - als quasi-naturwissenschaftlicher Aufschrei kommt in diesem Jahr das Motto der Sommerlichen Musiktage Hitzacker daher. Dabei ist Intendant Markus Fein weder Biologe noch Physiker. Und auch kein Chemiker, der Reagenzgläsern spektakuläre Gerüche und Farben entlockt.

Fein, zugleich Intendant der Niedersächsischen Musiktage, ist studierter Musikwissenschaftler und Kunsthistoriker, und irgendwie scheint Letzteres nachzuwirken: Immer wieder hat er in der Vergangenheit die Musiktage in dem Städtchen an Elbe und Jeetzel zu Landschafts-Klangräumen gemacht: Mal platzierte er Alphörner auf dem 70 Meter hohen Weinberg, mal ließ er am Elbufer jodeln. Stets schien es, als suche er nach eine arkadischen Landschaft, in der Natur und Musik friedlich koexistieren. Als wolle er Landschafts-Gemälde des 17. Jahrhunderts nachstellen, auf denen musizierende Faune unter Bäumen sitzen.

Diesmal will Fein die Musiktage eher naturwissenschaftlich verstanden wissen - als lebendes Labor eben. Klänge, Sinfonien, ganze Orchester sollen da zerlegt und wieder zusammengefügt werden, in der Hoffnung, zu finden, "was die Welt im Innersten zusammenhält", wie Goethe seinen "Faust" hat sagen lassen. Aus dem Werk des ewig forschenden Universalgelehrten wird denn auch in Hitzacker gelesen, am Eröffnungsabend. Ein würdiger Rahmen, so die Idee, für die neugierigen, revolutionären Komponisten, die Fein vorstellen will.

Charles Ives zählt er dazu, der schon im frühen 20. Jahrhundert atonal komponierte, Bach ohnehin, aber auch den Synästhetiker Alexander Skrjabin (1872-1915), der davon träumte, Töne nicht nur sicht-, sondern auch riechbar zu machen.

Das wird man in Hitzacker erleben können: Eine Parfumeurin hat zur 7. Klaviersonate des Russen einen speziellen Duft kreiert, der über die Klimaanlage in den Saal gegeben wird. "Wir haben das ausprobiert", sagt Fein. "Ein unglaubliches Erlebnis." Dabei versuche man nicht, Skrjabins Ideen historisch exakt zu rekonstruieren. "Wir wollen einen spielerischen, neuen Zugang zu dieser Musik. Unser Parfum ist nur ein Vorschlag, gewissermaßen." Und vielleicht die Anregung, zwischen den Sinnen zu changieren, auch hier Grenzen zu überschreiten und etwas als profan Angesehenes wie den Geruch nicht vom Konstrukt "Hochkultur" abzugrenzen.

Dabei gehe es nicht um "Event-Geflimmer", sagt Fein. Sondern um Interaktion - die scheint das eigentliche, versteckte Motto der 65. Musiktage zu sein. So muss das Publikum etwa die Hamburger Symphoniker umwandern. Diese werden als "begehbares Orchester" Teile von Schuberts C-Dur-Sinfonie spielen - inmitten der Zuschauer, die nach jeder Sequenz die Plätze wechseln und somit die Hörperspektive gleich mit verändern. Auch ist geplant, Auszüge der Sinfonie an zwei Orten zugleich zu spielen - hier den Bläser-, dort den Streicherpart. "Die Leute können etwas hören, das so noch nie öffentlich erklang", sagt Fein. "Sie können erfahren, wie die einzelnen Stimmen klingen. Wir sezieren die akustischen Komponenten - wie im Labor." Wenn die Sinfonie anschließend wieder komplett erklinge, sei das Erlebnis ein anderes.

Auf tatsächlich nie zuvor Gehörtem basiert das Stück des diesjährigen Residenz-Komponisten Matthias Kaul (siehe rechts): Er wird um Klänge herum komponieren, die das Bremerhavener Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in der Antarktis aufnahm und von denen niemand weiß, woher sie genau stammen. 50 Stunden Material habe man vom Institut erhalten, erzählt Fein - "wenn ein Eisberg kalbt oder ins Meer stürzt, gibt das schon ein unglaubliches Geräusch".

Vermutlich ist es kein Zufall, dass das Thema ins akute Aufwallen der Klimawandel-Diskussion hineingerät. Kaul gibt eine Antwort, so kreativ wie konsequent: Er integriert das Geräusch des Eises, spielt damit und bewahrt so die akustische Komponente des schwindenden Materials - mithin eine ihrerseits aussterbende Art von Geräusch.

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