Sommerinterview mit Raed Saleh: „Ich habe noch eine Menge vor“
Der SPD-Fraktionschef Raed Saleh pocht auf Regeln, würde Franziska Giffey als Parteichefin unterstützen und drängt Linke und Grüne zum Einlenken.
taz: Herr Saleh, Sie sind doch sonst der, der nah an den Problemen dran sein will und auch da hingeht, wo’s nicht so nett ist – und jetzt sitzen wir direkt am Fähranleger in Kladow, an einem der lauschigsten und lieblichsten Fleckchen, die Berlin zu bieten hat. Wie passt das denn?
Raed Saleh: Das ist ja das Großartige an Berlin. Die Stadt hat 1.000 Gesichter und ist gerade deshalb so großartig, weil sie all diese Unterschiede in sich vereint. Es gibt Kladow, und es gibt die Platte in der Heerstraße Nord, wo ich aufgewachsen bin, einer Gegend, von der man als Armenhaus Berlins spricht.
Daran erinnern Sie ja immer gern.
Das ist ja auch meine Identität, mein Zuhause, alles, was ich jetzt politisch mache, leite ich aus diesem Kiez ab – wie etwa die gebührenfreie Bildung. Ich weiß, wie es ist, wenn man an vielen Dingen nicht teilhaben kann, weil das nötige Kleingeld fehlt. Wenn es zum Schuljahresbeginn keine Hortgebühren mehr für die Klassen 1 und 2 gibt, geht für mich ein Traum in Erfüllung.
Aber heute haben Sie das nötige Kleingeld, als Fraktionschef verdienen Sie mehr als die meisten Berliner. Warum sind Sie wie alle anderen, die genug im Portemonnaie haben, von den Gebühren befreit und brauchen demnächst fürs Mittagessen an Grundschulen oder die BVG-Karte ihrer Kinder nichts zu bezahlen?
Ich möchte die Mittelschicht entlasten und die, die wirklich mehr Geld in der Tasche haben, nicht über Gebühren für die Bildung, sondern über ein gerechteres Steuersystem am Ende stärker zur Kasse bitten.
Aber aufs Steuergesetz da haben Sie auf Landesebene keinen Einfluss.
Dann muss das auf Bundesebene geregelt werden. Für mich ist klar: Bildung darf nichts kosten, von der Kita bis zur Uni. Wir wollen aber noch mehr Ich frage mich zum Beispiel: Warum gibt es immer noch Museen, wo Kinder Eintritt zahlen müssen?
Raed Saleh wurde 1977 in Palästina geboren und kam mit fünf Jahren nach Deutschland. 2006 zog er ins Abgeordnetenhaus ein, 2011 wurde er SPD-Fraktionschef.
In vielen, wie im Pergamonmuseum, kommen die doch schon bis 18 Jahre umsonst rein.
Aber nicht ins Technikmuseum oder ins Naturkundemuseum, gucken Sie nach! Gerade ein Ort wie das Naturkundemuseum, das mit Hunderten von Millionen bezuschusst wird, ist da in der Pflicht – jedes Kind hat ein Recht darauf, einen Dino zu sehen.
Aus der Urzeit mal wieder zurück in unseren lauschigen Biergarten in Kladow – Sie haben hier ja sogar ein Häuschen. Darf man oder frau das noch bei der SPD, gibt es da keine Neiddebatte oder die Angst, es gehe die Glaubwürdigkeit verloren, Anwalt der Benachteiligten zu sein?
Ich habe meiner Familie und mir einen großen Wunsch erfüllt, indem wir uns vor vielen Jahren schon ein Reihenhaus gekauft haben. Eigentum und Sozialdemokratie als Widerspruch – das wäre total falsch. Im Gegenteil: Die beste Altersvorsorge ist eine eigene Wohnung. Im Nachhinein denke ich, dass wir als Land Berlin, statt Wohnungsgesellschaften zu verkaufen, Wohnungen den Mietern hätte anbieten sollen.
Sie sind selbst Aufstiegsgeschichte pur: Von der Heerstraße übers Burger-Braten bis an die Fraktionsspitze. Wieso erweckt die SPD dann eigentlich mitunter den Eindruck, mit dem Begriff „Leistung“ zu fremdeln?
Ich sehe es nicht so, dass die SPD mit Leistung fremdelt. Ich war immer stolz darauf, mein eigenes Geld zu verdienen – mit 16 Jahren habe ich schon Burger gebraten und Pommes verkauft. Wir sind doch eine Volkspartei und haben ganz unterschiedliche Charaktere in der Partei. Und wir waren lange so erfolgreich, weil ganz unterschiedliche Menschen die SPD wählen konnten: der Polizist, weil für ihn die SPD für Recht und Ordnung und für einen starken Staat stand …
… das würden mutmaßlich heute in Berlin weniger Polizisten sagen.
So ist zumindest die Idee. Uns gewählt hat aber auch der Sozialpädagoge, dem das Thema Gerechtigkeit am Herzen liegt. All diese Leute mitzunehmen, vom Rentner bis zur Studentin, das hat die SPD vielleicht verlernt. Wir haben aber, glaube ich, zuletzt nicht mehr den richtigen Ton getroffen. Das ist gefährlich: Wir dürfen nie zu einer Nischenpartei werden, wir dürfen uns nicht nur um eine Gruppe kümmern. Wenn die SPD den Anspruch aufgibt, Volkspartei zu sein, dann haben wir innerhalb der Gesellschaft ein Vakuum, in das andere reingehen.
Können Sie das genauer sagen?
Etwa beim Thema Sicherheit und Werte. Ich höre immer: Wir dürfen nicht zu streng sein beim Thema Migration, weil man sonst die Migranten verärgert – so ein Quark!
Sagt jetzt einer, der selbst Anfang der 80er Jahre als Migrant nach Deutschland kam.
Die härtesten Forderungen, Regeln einzuhalten, kommen von den Migranten selbst! Weil sie nicht mit den wenigen Spinnern, die sich danebenverhalten, in einen Topf geworfen werden wollen. Wenn meine Mutter nach den Nachrichten den Fernseher ausmacht, höre ich oft: Mensch, Raed, ihr müsst da durchgreifen, Straftaten sind Straftaten, egal wo jemand herkommt, ihr müsst da Härte zeigen. Meine Schwester sagt, egal ob einer Mustafa oder Björn heißt, es gelten Regeln. Vielleicht hat die SPD den Eindruck hinterlassen, dass wir den Anspruch, dass Regeln gelten müssen, nicht ernst genug nehmen.
Da sind wir ja gleich tief im beliebten Thema: „Wohin mit der SPD und mit wem an der Spitze?“ War es für Sie eine Genugtuung, als Gesine Schwan sich jüngst ins Gespräch für eine Doppelspitze brachte? Sie hatten, von manchen belächelt, Schwan 2015 als Kanzlerkandidatin vorgeschlagen.
Als ich das hörte, ging mir durch den Kopf: Wow, die ist mutig. Wer sie kennt, weiß: Die lebt Sozialdemokratie, die ist Überzeugungstäterin. Respekt, dachte ich.
Wen wünschen Sie sich denn an der Spitze der SPD?
Wir müssen jetzt schauen, welche Kandidatenteams antreten und welche Inhalte sie präsentieren.
Gut, dann konkret: Wenn Ihre Berliner Parteifreundin Franziska Giffey antritt, unterstützen Sie sie dann?
Wenn Franziska antreten würde, hätte sie meine volle Unterstützung. Sie hat ja immer wieder deutlich gemacht, dass das für sie auch eine Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist – sie hat ja einen neunjährigen Sohn. Ich kann auch begründen, warum ich sie unterstützen würde: Weil Franziska mit den Themen, die sie seit vielen Jahren in Neukölln bewegt hat, eine Person ist, die die SPD bundesweit wieder zur stärksten Kraft machen könnte, und zwar in kürzester Zeit. Denn Franziska verkörpert eine Sehnsucht, dass die Sozialdemokratie wieder Probleme erkennt und anpackt, Situationen nicht schlechtredet, aber auch nicht beschönigt.
Gehen wir eine Etage tiefer. Warum ist Michael Müller unter den 16 deutschen Ministerpräsidenten der unbeliebteste Regierungschef, warum sind in Berlin nach jüngster Umfrage nur 27 Prozent mit ihm zufrieden?
Ich glaube, das wird sich im Laufe der nächsten Monate wieder ändern. Umfragen sind Momentaufnahmen, und die SPD ist ja bundesweit in einer tiefen Krise.
Parallel zur SPD-Misere läuft es auch in der Berliner Koalition nicht rund. Zuletzt stand wieder mehr im Vordergrund, was die Regierungskoalition trennt – Tempelhofer Feld, Volksbefragung, der Stadtentwicklungsplan –, als das, was Rot-Rot-Grün eint. Was war das noch mal?
Die Vision von einer solidarischen, von einer starken Stadt, die es hinbekommt, soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Vernunft zusammenzudenken. Wir wollen eine menschlichere Metropole. Aber außer dem, was Sie angesprochen haben, könnten noch ein paar andere Dinge schneller gehen. Etwa beim Thema Cannabis, wo es mal eine Bundesratsinitiative geben müsste …
… das ist jetzt aber auch nicht das drängendste Thema für die große Mehrheit in der Stadt.
Es ist ein kleines Thema, es betrifft aber Hundertausende in der Stadt.
Hunderttausende?
Ja, fragen Sie doch mal rum bei sich in der taz. Oder das Wahlalter ab 16 – wer soll das hinbekommen, wenn nicht Rot-Rot-Grün? Oder ein politisches Bezirksamt. Beim Thema Tempelhofer Feld, beim Thema Videoüberwachung, beim Thema Polizei, da haben wir tatsächlich klar unterschiedliche Sichtweisen. Aber Politik bedingt immer auch Beweglichkeit und Eingehen auf neue Situationen, das gilt gerade beim Tempelhofer Feld. Wir wollen nur am Rand bauen, und zwar nicht mit Luxusprojekten, sondern mit 100 Prozent landeseigenen Wohnungen. Da sage ich zu Linken und Grünen: Lasst uns diskutieren – sprechen hilft!
Über Gesine Schwan haben wir gesprochen, über Müller und Giffey, aber noch nicht über Ihre Zukunft. Sie selbst sind nun knapp acht Jahre Fraktionschef – wo sehen Sie sich denn in ein paar Jahren? Manche sagen, für Spandau im Bundestag.
Erst mal bin ich dankbar, dass ich nun seit acht Jahren diese Stadt politisch mit prägen darf und viele Veränderungen habe bewirken können. Es wird aber nicht langweilig, mir macht die Arbeit Spaß. Und was den Bundestag angeht: Ich möchte gerne Landespolitiker bleiben, und ich habe noch eine Menge vor.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin