Solidarität mit Protestierenden in Iran: Da muss mehr gehen
Ja, im Oktober waren beeindruckende 80.000 Menschen in Berlin auf der Straße. Doch es braucht noch mehr Solidarität.
D ie iranische Jugend streckt den Ayatollahs todesmutig den Mittelfinger entgegen. Und was machen wir? Wir zeigen dieser Jugend und ihren Unterstützern* unseren eigenen. Aber ja, im Oktober waren beeindruckende 80.000 Menschen in Berlin auf der Straße. Seitdem folgen weitere Kundgebungen, Mahnwachen und kreative Protestaktionen, immer mit dem Slogan „Jin, Jiyan, Azadi“ (auf Deutsch: „Frau, Freiheit, Leben“). Come on, wer dabei war, weiß, der Großteil hat einen iranischen Background, zur Massendemo kamen sie aus ganz Europa. Also machen wir uns nichts vor, da geht noch mehr. Da muss mehr gehen. Lassen wir sie nicht allein!
Ohne jeden Zweifel: Der Support aus Teilen der Zivilgesellschaft, besonders aus Kunst, Kultur und Unterhaltung, ist episch, wahrscheinlich einzigartig, gerade deshalb braucht es mehr.
Nicht an deren Stelle, sondern als Reaktionsbeschleuniger. Im Angesicht des iranischen Regimes mit seiner Niedertracht und der rapide wachsenden Bereitschaft für Hinrichtungen droht die Wirkung der bisherigen Solidarität zu verpuffen. Und, nun ja, im Angesicht der verstörenden Apathie unserer eigenen Regierung ebenso. Da könnte ein zahlenmäßiger Multi-Wumms von der analogen wie auch digitalen Straße aufrütteln. Es braucht die Massen, dauerhaft und wiederkehrend.
Experten mit iranischem Hintergrund, Exilant:innen, Menschen mit Angehörigen vor Ort, erzählen, solch eine revolutionäre Wucht habe es in den vergangenen 40 Jahren nicht gegeben. Es sei ein noch nie dagewesener gesellschaftlicher Schulterschluss, selbst Konservative verlören die Geduld. Zur Erinnerung: Wir sprechen von einem menschenverachtenden Regime im Namen des Allmächtigen. Hier geraten die Fundamente eines selbsternannten Gottesstaates mit globalen Tentakeln ins Wanken.
Eigentlich der feuchte Traum aller „Islamkritik“, die natürlich nichts gegen Muslim:innen haben will, sondern nur etwas gegen Feinde der (Meinungs-)Freiheit. Eure Chance, das endlich mal zu beweisen. Wo bleiben die auflagenstarken Autor:innen samt Anhängerschaft und ihr solidarischer Aufruf für die Iran-Proteste? Lediglich Henryk Broder äußert sich wiederholt und klar, wenn auch zum Teil lachhaft. Die Proteste dieses Ausmaßes hätten selbst Fachleute nicht für möglich gehalten, behauptet er. Check your experts, mate!
Vom Volke aus
Hier könnte das passieren, was sie echten und sogenannten Muslimen in der üblichen infantil paternalistischen Art (ja, diesen Widerspruch bekommen sie hin!) abverlangen: Im Iran geht der Aufstand vom Volk aus. Es gibt die Chance, eine Ideologie loszuwerden, die Israel von der Landkarte tilgen will, die Terror finanziert. Eine Staatsideologie, die als Regionalmacht Einfluss – eher Ausfluss – auf etliche Länder hat, dessen Folgen weltweit reichen.
Und spannend ist auch: Diejenigen, die die Mullahs erzürnen, sind in der Hauptsache keine Ideologen, keine stalinistischen Betonköpfe, Nostalgiker des Schahs oder Wegbereiter:innen eines pseudodemokratischen „Persiens“ neoliberaler Prägung. Es ist die oft bemühte Gen Z.
Und wo seid ihr alle? Wo ist Facebooks „Free Iran“ fürs Profilbild? Wo sind die säkularen Muslim:innen, meine Brüder und Schwestern* im Geiste? Wo die selbstvermarkteten Ex-Muslim:innen, wo die Atheisten? Wo das versammelte Antideutschtum? Leute, stellt euch einen säkularen Iran vor. Hamdulillah!
Bleibt noch der Elefant im Raum: Realpolitik ist interessengeleitet, aber wer definiert die Interessen, wer sagt, es dürften nur wirtschaftliche sein? Was Interessen eines Landes sind, formuliert jeder und jede einzelne von uns mit. Seien wir doch mal ehrlich, der Elefant im Raum ist gar nicht mal so selten ein Elefant im Porzellanladen. Jin, Jiyan, Azadi!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Aktionismus nach Magdeburg-Terror
Besser erst mal nachdenken
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Anschlag von Magdeburg
Aus günstigem Anlass
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml