Sloweniens Bürger ohne Rechte: Gelöschte Existenzen
Nach dem Zerfall Jugoslawiens wurden Zehntausende Menschen aus allen Registern Sloweniens gestrichen. Viele kämpfen noch heute um ihren Status.
Z wei Stunden wartet Irfan Beširević hinter hundert anderen Menschen vor dem Verwaltungsbüro in Ljubljana. Es ist November 1991, Beširević will die Staatsbürgerschaft der frisch gegründeten Republik Slowenien beantragen. Er hat sich hierhergeschleppt, obwohl er Tage zuvor, nach einem schweren Autounfall, erst aus dem Koma erwacht ist. Aber die Zeit rennt, wenn das Land, das man sein Zuhause nennt, einem eine Frist setzt, um Bürger zu werden.
„Mein Antrag wurde abgelehnt und mein Ausweis zerschnitten. Ab da begannen meine Probleme“, erzählt Beširević heute am Kneipentisch in Ljubljana. Um vier Uhr nachmittags bestellt er das dritte Bier und raucht eine Zigarette nach der anderen. Er hat sein Schicksal schon Hunderte Male durch seinen dichten weißen Schnurrbart erzählt. Seine Hände sprechen an manchen Stellen immer noch mit, wenn er sich aufregt über diese große Ungerechtigkeit.
Vor 31 Jahren erfuhr Irfan Beširević, dass er in Slowenien nicht mehr existierte – der jugoslawischen Republik, in der er seit seinem ersten Lebensjahr aufgewachsen und zur Schule gegangen war, später Arbeit fand und eine Familie gründete.
Vor dem Zerfall Jugoslawiens
Mehr als 200.000 Migrant:innen aus anderen Teilen Jugoslawiens lebten im Jahr 1990 in Slowenien, wo sie als ständige Einwohner:innen registriert waren. Jede Teilrepublik Jugoslawiens hatte ihre eigene Staatsbürgerschaft auf Republiksebene; da sie jedoch auch Bürger:innen der gesamten jugoslawischen Föderation waren, genossen sie die vollen Staatsbürgerrechte in Slowenien.
Unabhängigkeitskrieg
Am 26. Juni 1991 begann Slowenien als erster Teilstaat einen zehntägigen Unabhängigkeitskrieg gegen Jugoslawien. Nach der Unabhängigkeit konnten dauerhaft ansässige Personen in einem sechsmonatigen Zeitraum die slowenische Staatsbürgerschaft beantragen. Am 26. Februar 1992 wurden diejenigen ohne gültigen Antrag aus dem Register der ständigen Einwohner:innen gelöscht.
Anerkennung: spät und spärlich
Erst 2010 veröffentlichte das slowenische Innenministerium Zahlen, nach denen 25.671 Menschen „izbrisani“, also ausgelöscht wurden. Das entspricht etwa 1 Prozent der Bevölkerung. Ein daraufhin auf den Weg gebrachtes Gesetz ermöglichte es Tausenden „Ausgelöschten“, die noch in Slowenien waren, ihren Status wiederzuerlangen sowie finanzielle Entschädigungen zu erhalten.
Das temporäre Gesetz lief jedoch 2013 aus. Seitdem gab es für die Betroffenen keine Möglichkeiten mehr, ihren Status als Ausgelöschte zu regeln. Den eigenen Status zurückzugewinnen kann heutzutage in Slowenien immer noch Jahre dauern.
Ein neues Gesetz, das die Statusfrage der Izbrisani erleichtern und höhere Entschädigungen festschreiben würde, ist derzeit nicht in Planung. (taz)
Beširević ist damit einer von 25.671 Bürger:innen aus Ländern Ex-Jugoslawiens, die Slowenien nach der Erklärung der Unabhängigkeit am 26. Februar 1992 ohne Information aus seinen Aufenthaltsregistern löschte. Sechs Monate hatten die Menschen Zeit, einen slowenischen Pass zu beantragen – wer das nicht schaffte und alle Papiere rechtzeitig beibringen konnte, hielt sich fortan illegal in Slowenien auf. Die slowenische Bezeichnung „Izbrisani“ – die Gelöschten – beschreibt ihr Schicksal. Nur die Rückkehr in ihre Geburtsländer wie Bosnien, Serbien oder Kroatien stand ihnen noch offen.
Neue Heimat: Keller und Brücken
Der Grund für das harte Vorgehen: Die rechtskonservative Regierung muss die frisch gewonnene Unabhängigkeit damals als fragil empfunden haben. „Die rechten Politiker verdächtigten die nicht in Slowenien Geborenen, Spione oder Angehörige der Jugoslawischen Armee und somit eine Gefährdung für die Unabhängigkeit zu sein“, erklärt Maja Ladić, Researcherin des slowenischen Peace Institute, einer NGO, die sich für die Rechte der Izbrisani einsetzt.
„Ich wollte hier bleiben, weil Slowenien mein Zuhause ist. Mit Bosnien hatte ich nichts zu tun – das Land habe ich als Kind verlassen“, erzählt Irfan Beširević heute über seine Angst vor der Ausweisung. Als Slowenien die Unabhängigkeit gewann, verlor er alles. Keinen Aufenthaltstitel zu haben bedeutet auch, keine Rechte als Bürger zu besitzen.
Nachdem er seinen Job in einem der besten Fünfsternehotels Sloweniens und damit sein Einkommen verlor, mit dem er die Familie ernährt hatte, ließ seine Frau sich scheiden. Keller und Brücken wurden sein Zuhause. Der gebürtige Bosnier ist einer von Tausenden Betroffenen. Doch als er 1997 bei Protesten der „Izbrisani“, die sich inzwischen vernetzt hatten, seine Geschichte öffentlich zu erzählen begann, schämte sich seine Familie für ihn, und er sah seine zwei Kinder 17 Jahre lang nicht.
Wenn man nicht existiert, flattert kein Brief mit der Aufforderung, die neue slowenische Staatsbürgerschaft zu beantragen, in den Briefkasten. Die meisten Betroffenen erfuhren erst durch Zufall von ihrem Schicksal – während Routineverkehrskontrollen etwa, bei denen sich ihr Ausweis plötzlich als ungültig erwies.
Keine Versicherung, keine Rente, kein Mietvertrag
Die bizarre Szene war nicht selten: von der Polizei wegen zu schnellen Fahrens angehalten, um danach aus dem Land geworfen zu werden. Manche wollten aus dem Urlaub im Ausland zurückkehren und durften die slowenische Grenze nicht mehr passieren, erzählt Ladić die Geschichten Betroffener. Am 26. Februar 1992 verloren sie alle Rechte, die sie noch am Vortag besaßen. Keine Krankenversicherung, kein Bankkonto, kein Arbeits- oder Mietvertrag hatte für die Gelöschten in den nächsten Jahren noch Gültigkeit.
Maja Ladić kennt die Geschichten vieler, die aus ihren Wohnungen verdrängt, deren Konten eingefroren und Renten nicht ausgezahlt wurden. Jahrelang wussten die wenigsten, dass es noch andere wie sie gab. Die Löschung aus dem System passierte vor der Zeit des Internets, erinnert Ladić: „Viele der Betroffenen waren auch einfache Arbeiter, die mit behördlichen Angelegenheiten nicht vertraut waren und nicht wussten, wohin sie sich wenden sollten.“
Irfan Beširević erzählt, die Angst vor der Ausweisung in die jugoslawischen Kriegsgebiete sei so groß gewesen, dass er drei Tage fiebernde Thrombose ohne Nahrung in einem Keller durchstanden habe. Er habe Angst gehabt, in eine Notaufnahme zu gehen, weil er formal nicht existierte und die Ärzt:innen ihn hätten wegschicken können. Seine Beine sind heute noch von großen Wunden übersäht, die sich entzünden und ihm Probleme beim Laufen bereiten. Die Thrombose in den Beinen ist inzwischen so fortgeschritten, dass der 65-Jährige auf eine Amputation wartet.
Irfan Beširević, Ausgelöschter
Erst 2010 veröffentlichte die damalige Innenministerin Katarina Kresal das offizielle Ausmaß der Auslöschung: 25.671 Ausradierte. Das entspricht knapp 1,3 Prozent der Bevölkerung des Landes. Expert:innen, wie Ladić sowie der slowenische Schriftsteller Miha Mazzini, der Buch und Film zum Thema veröffentlichte, gehen jedoch davon aus, dass die Löschung wesentlich mehr Jugoslaw:innen betroffen haben könnte – die Zahlen könnten um die 100.000 liegen. Denn viele verließen das Land und kämpften nicht um ihre Rechte – sie waren ja offenbar nicht mehr willkommen.
Ausländer:innen im eigenen Land
Zum Vergleich: Schätzungen des UNHCR zufolge sind derzeit mehr als eine halbe Million Menschen in ganz Europa staatenlos oder haben eine unbestimmte Staatsangehörigkeit. Die Ausgelöschten wurden nicht im formalen Sinne staatenlos, sondern Bürger:innen anderer jugoslawischer Nachfolgestaaten.
Bis Juli 2023 haben 12.514 der gelöschten Personen ihren Status mit einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis oder der Staatsbürgerschaft der Republik Slowenien geregelt, teilt das slowenische Innenministerium auf Anfrage mit. Viele der Izbrisani konnten jedoch nicht nach Slowenien zurückkehren, weil sie als Ausländer:innen ohne Asylanspruch abgewiesen wurden.
Sie zogen daher in andere Länder. Familien wurden auseinandergerissen, da auch Ehepartner:innen von Slowen:innen nicht automatisch den ständigen Wohnsitz oder gar die Staatsbürgerschaft erhielten. Sie verloren Jobs und Wohnungen; Asyl wurde ihnen in Slowenien nicht gewährt, der Zugang zu Bildung und einer geregelten Krankenversorgung erschwert, die Zahlung von Renten verweigert.
Sie kämpften häufig jahrzehntelang vor Gericht für ihre Rechte – manche von ihnen kämpfen noch heute. Rechtsbeistand erhielten Hunderte der Ausradierten von Matevž Krivic. Der heute 80-jährige Jurist war bis 1998 Richter am slowenischen Verfassungsgericht und entschied damals im Sinne der Izbrisani, die unrechtmäßig ihres Status beraubt worden seien.
Wegweisende Urteile
„Unsere Nachfolger am Verfassungsgericht stellten jedoch klar, dass die Entscheidung nur jene betraf, die in den letzten Jahren nicht das Land verlassen hatten – was paradox und absurd ist, denn für die Izbrisani war es ja illegal, in Slowenien zu bleiben“, erklärt Krivic. Ein jahrelanges Leben unter dem Radar war also nötig, um den Status später wiederzuerlangen.
In den ersten sechs Monaten nach der Unabhängigkeit wurden Tausende Anträge auf Staatsbürgerschaft abgelehnt, weil Betroffene nicht alle nötigen Papiere hatten. Die slowenischen Behörden verlangten Originaldokumente aus den Geburtsländern der Betroffenen, in die sie aufgrund des Krieges nicht reisen konnten. „Das ist ein krimineller Akt, denn das Gesetz schreibt klar vor, dass jeder Antrag zunächst akzeptiert werden muss!“, stellt Krivic klar.
Matevž Krivic, Ex-Richter und Anwalt
Des Weiteren dürfe niemand gesetzlich gezwungen werden, eine neue Staatsbürgerschaft anzunehmen. Sowohl 1999 als auch 2003 stufte das Gericht die Löschung als verfassungswidrig ein.
2004 trat Slowenien der EU bei. Der Fall ging bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (ECHR), der urteilte, dass Slowenien nicht nur den Status der gelöschten Personen wiederherzustellen habe, sondern auch Kompensation für den persönlichen Schaden zu leisten. „Solange Bewegung in der Sache ist, verliere ich die Hoffnung nicht“, gibt Maja Ladić zu. Etwa einmal im Monat würden immer noch Personen ohne Status anrufen.
Ein Ć als Wiedergutmachung
Das Peace Institute erhält keine Mittel mehr für den Rechtsbeistand. Die gesamte Arbeit, die Ladić und ihre Kolleg:innen für die Izbrisani leisten, ist daher ehrenamtlich. Auch im Ruhestand vertritt Krivic noch von der Auslöschung betroffene Menschen vor Gericht. Seit 25 Jahren kämpft der betagte Anwalt pro bono für die Rechte seiner Klient:innen: „Das ist solch eine große Ungerechtigkeit; ich kann zu diesen Fällen nicht Nein sagen. Es ist meine Rache an der Bürokratie, und ich möchte damit bis zum Ende weitermachen.“ Denn auch eine einzige ausgelöschte Person sei noch zu viel.
Eine davon ist die gebürtige Bosnierin Elivsa Osmanović, die immer noch mit ihrer Familie um Anerkennung kämpft. Sie sitzt in der Küche ihrer Wohnung im Nordosten Ljbuljanas. Die Namen an den Klingelschildern des Mietshauses sind fast alle bosnisch- oder serbischstämmig – das ist an dem ć erkennbar, den auch Elivas Nachname trägt. Das von der Regierung in Auftrag gegebene Denkmal für die Ausgelöschten soll die Form dieses Buchstabens haben. Es soll beim Center of Alternative Culture Rog entstehen, mitten im Stadtzentrum.
Es ist mittags um zwölf, die Söhne schlafen noch, die älteste Tochter bringt immer wieder das jüngste Geschwisterkind zur Mutter. Die Wohnung ist geräumig, die Einrichtung minimalistisch, ohne Deko und Erinnerungsstücke, die man über die Jahre so angesammelt haben könnte. Seit acht Jahren wohnen sie jetzt in der Wohnung, wo sich die fünf Kinder zwei Zimmer mit Matratzenlager teilen. Sie wollen bleiben, denn das Leben hier ist gut, wenn es auch nicht so ist, wie sie es sich wünscht, sagt Osmanović.
Auch sie kam als Baby mit ihren Eltern nach Slowenien. Der Vater hatte in Ljubljana Arbeit gefunden. Doch während des zehntägigen Unabhängigkeitskrieges gegen Jugoslawien floh die Familie, die der Roma-Community angehört, aus Angst vor Verfolgung nach Deutschland. „Als wir Jahre später zurückkehren wollten, hatten wir keine gültigen Papiere mehr – ich war damals 12 Jahre alt“, erzählt die heute 38-Jährige.
Doppelte Ablehnung
Die Abschiebung nach Bosnien war somit unausweichlich, doch die Familie versuchte Asyl in Deutschland zu bekommen – erfolglos. Eine 11-jährige Irrfahrt durch ganz Europa begann – immer mit dem Ziel, das Leben in Slowenien fortzusetzen. Diese führte sie über Österreich nach Dänemark und Schweden, von wo sie mit ihrem Mann und den Kindern zwischenzeitlich immer wieder nach Bosnien abgeschoben wurde. „Wir konnten in Bosnien nicht leben. Dort nannten sie uns Zigeuner, und wir waren wie Aussätzige“, erzählt Osmanović.
In Slowenien hingegen wurden die Izbrisani häufig als Kriminelle stereotypisiert. Bis heute wird ihnen von rechtskonservativen Parteien und einem Teil der Slowen:innen nachgesagt, dass sie sich nicht um einen offiziellen Status in Slowenien bemühten oder ihn gar ablehnten. Ein Referendum im Jahr 2004 fragte die slowenische Bevölkerung, ob gelöschten Personen ihre Rechte zurückgegeben werden sollten. 96 Prozent der Wähler:innen stimmten mit Nein, nachdem eine Kampagne der damaligen rechtskonservativen Opposition stark in diese Richtung gelenkt hatte.
Elvisa Osmanović erzählt, sie sei mit 25 Jahren am Darmleiden Morbus Crohn erkrankt und ohne ordentliche Krankenversicherung nur mit finanzieller Unterstützung ihres Vaters in bosnischen Krankenhäusern behandelt worden. Nach einigen Jahren als ständige Gäste im kleinen Haus der Tante fand ihr Ehemann Alaga einen Schmuggler, der ihn über die slowenische Grenze brachte. Elvisa blieb monatelang mit drei kleinen Kindern alleine in Bosnien zurück, bis auch sie es 2011 auf dem gleichen Weg wagte. Elf Jahre nach der Auslöschung hatte es die ganze Familie endlich zurück nach Ljubljana geschafft und beantragte Asyl.
Nach sechs Monaten Duldungsstatus, zwei Jahren Asylheim und Gelegenheitsjobs auf dem Schrottplatz erlangten Elvisa und Alaga Osmanović 2014 mit der Hilfe von Anwalt Matevž Krivic ihren Status zurück. Für ihre ältesten Söhne, die in Bosnien geboren sind, kämpft sie mit Krivic bis heute für die gleichen Rechte.
Zahlreiche „Einzelfälle“
Auch beim letzten Gerichtstermin im August wurde die Aufenthaltserlaubnis wieder nur auf zwei Jahre verlängert. So sei es für ihre Söhne auch schwer, Arbeit zu finden. Elvisa selbst hat wegen der Auslöschung gerade einmal sechs Jahre Schulbildung in Deutschland erhalten: „Ich bin jetzt nur Mutter, dabei würde ich gerne etwas machen, was nicht zu Hause ist. Ich würde gerne arbeiten. Ich habe einen Führerschein. Ich könnte ja auch putzen.“ Beschäftigung, mal zu Hause rauskommen, darum geht es ihr. Derzeit lebt die Familie von Alagas Gehalt und ein wenig Sozialhilfe.
Am meisten wünscht sich Osmanović, deren Leben selbst so aus den Fugen geriet, den Status für ihre Kinder: „Es war grausam, was ich erlebt habe. Ich wünsche meinen Kindern dieses ‚von Land zu Land, Stadt zu Stadt und Schule zu Schule‘ nicht, sondern dass sie sicher an einem Ort aufwachsen können.“ Durch die Auslöschung bleiben ihr immer noch viele Möglichkeiten auf Bildung und Beschäftigung verwehrt, die kaum nachgeholt werden können.
Maja Ladić vom Peace Institute lässt auch der tragische Fall von Zoran Tešanović nicht los: „Er hat 30 Jahre auf seinen Status gewartet und immer gesagt, er müsse nur noch einen Winter überleben.“ Den Winter 2022 überlebte er nicht. Zoran verbrannte in seinem Wohnwagen im Schlaf. „Seine Umstände sind direkt mit der Auslöschung verbunden“, erklärt Ladić. Weil er in Slowenien als illegaler Immigrant galt, konnte er nur Jobs in der Schattenwirtschaft annehmen.
Seine Freunde brachten ihn erst 2015 in Kontakt mit dem Peace Institute, das ihm helfen sollte, seinen Status wiederzuerlangen. Doch das Gesetz, das diesen Prozess ermöglichte, war schon Jahre zuvor ausgelaufen. Über Umwege dauerte das Verfahren nun mehr als sieben Jahre, die Tešanović letztlich nicht überlebte.
Spät und spärlich
Für die Auslöschung zahlt der slowenische Staat den Betroffenen eine Entschädigung von 50 Euro für jeden Monat, in denen sie keinen Status hatten. Das ist ein Fünftel dessen, was der ECHR in seinem Urteil als Kompensation vorgeschlagen hatte. Viele der Izbrisani hatten während der Jahre ohne Status kein Einkommen und haben wie Irfan Beširević sogar Schulden angehäuft, um über die Runden zu kommen. „Die Entschädigung spiegelt nur die Anzahl der Monate wider, für die der Status verloren wurde, nicht das tatsächliche Leid“, fasst Ladić zusammen.
Sollte die Regierung ein neues Gesetz für die Izbrisani auf den Weg bringen, würde auch die Diskussion über die Entschädigung wieder entfacht, meint sie. Ein bei Parteien und Steuerzahler:innen höchst unpopuläres Thema schon in wirtschaftlich starken Zeiten würde vor allem wenige Monate nach dem Hochwasser des Sommers 2023 mit dem Argument abgewehrt werden, man brauche das Geld an anderer Stelle.
Auch Ratko Stojiljković kämpft seit Jahren für die Rechte der Izbrisani. Er spricht schnell und mit einem Anliegen, als er im Restaurant seine Familiengeschichte erzählt. Es ist Hochsaison, und die Hauptstadt ist voller Tourist:innen, die auch einen Tisch mit Blick auf den Fluss Ljubljanica suchen. Während die Menschen sich langsam durch die heiße Innenstadt schlängeln, schauen und suchen, holt er etliche Bücher aus seinem Rucksack. Alle sind von Izbrisani geschrieben; die Schicksale so verschieden wie die Cover. Sein Fahrrad hat er am Flussgeländer angeschlossen, die Räder voller Schlamm, denn er hat die Tage zuvor im Flutgebiet geholfen.
Stojiljković bestellt eine Cola, fragt nach einem Aschenbecher und lehnt sich zurück. Er nimmt sich Zeit für das Gespräch, aber morgen fährt er mit seinem Fahrrad wieder durch den Schlamm, zu denen, die noch Hilfe brauchen. „Wenn man eine Person löscht, dann auch die ganze Familie“, erzählt der 43-Jährige über die Auslöschung seines serbischen Vaters in den neunziger Jahren. Als Ex-Angehörigem der jugoslawischen Armee wurde dessen Antrag auf Staatsbürgerschaft trotz seiner slowenischen Ehefrau direkt abgelehnt. Er wurde nach Serbien ausgewiesen.
Diskriminiert als „Ćefur“
Etwa ein Jahr später unternahm er den Versuch, nach Slowenien zurückzukehren und den Status zu beantragen. Die Behörden behandelten den Antrag, als hätte er nie zuvor hier gelebt und eine Familie gegründet; sieben Jahre dauerte das Prozedere. Es stürzte die Familie in eine Spirale der Unsicherheit und führte zu zahlreichen Zusammenstößen mit der Polizei während Stojiljković’ Jugend.
„Ćefur“ sei er in der Schule genannt worden, eine äußerst herabwürdigende Beschimpfung für die Ausgelöschten. Sein Vater bekam Alkoholprobleme, während er selbst immer schlechter in der Schule wurde, egal wie sehr er sich anstrengte: „Weil mein Name serbisch war.“
Da der Vater als Ausgelöschter nie die Pension der Armee bekam, übernahm Ratko Stojiljković mit 14 Jahren Verantwortung und arbeitete als Zeitungsausträger – „bis drei Uhr nachts und dann direkt in die Schule“. Den Akt der Auslöschung beschreibt er als „politischen Genozid“. Er sagt, er brauche kein Monument, wie es die Regierung in Ljubljana errichten lassen will, vor allem wenn die Statusfrage der Izbrisani noch nicht für alle gelöst sei. „Die Auslöschung hat mich verändert. Sobald wir wussten, dass es andere wie uns gab, mussten wir uns gegenseitig helfen“, sagt Stojiljković.
Er und Irfan Beširević kennen sich gut, sie halten gemeinsam Vorträge über ihr Schicksal – auch vor Studierenden im Ausland. Während Beširević’ Geschichte den Zuhörer:innen Tränen in die Augen treibe, stellt Stojiljković Forderungen nach humanen Kompensationen für das Erlebte. Beide setzen sich heute in Vollzeit für die Anliegen anderer Minderheiten ein und reisen zu Protesten außerhalb Sloweniens, wenn dort für die Rechte von Geflüchteten, LGBTQI+ und Roma auf die Straße gegangen wird.
Ein neues Gesetz? Wahrscheinlich zu spät
Nachdem er 2003 mit 45 Jahren die slowenische Staatsbürgerschaft erhielt, widmete er sein Leben dem Aktivismus. Er leitete jahrelang ein Sozialzentrum im ehemaligen Kulturzentrum „Rok“, ein besetztes Haus auf der früheren Militärbasis Metelkova mitten in Ljubljana.
Die derzeitige slowenische Präsidentin Nataša Pirc Musar hat versprochen, sich während ihrer Amtszeit den Anliegen der Ausgelöschten zu widmen, und dafür eine Beauftragte ernannt, um den schwarzen Fleck in der slowenischen Geschichte endgültig zu beseitigen. Ähnlich dem deutschen Bundespräsidenten hat jedoch auch die Staatspräsidentin Sloweniens hauptsächlich eine zeremonielle Funktion und kann maximal Empfehlungen an die Regierung aussprechen. Auf mehrmalige taz-Anfragen zum aktuellen Stand der Bemühungen antwortete ihr Büro nicht.
Ob er sich an einem neuen und besseren Gesetz beteiligen wolle, sei er von der derzeitigen Regierung gefragt worden, erzählt Matevž Krivic: „Es ist fast zu spät. Die Menschen sind alt oder bereits verstorben und werden ihre finanzielle Kompensation niemals ausgeben können.“ Tausende Betroffene, die Slowenien in den frühen Neunzigern verließen, hätten ihr Leben inzwischen neu ausgerichtet, sagt er. Die 14 slowenischen Regierungen seit 1991 haben das Problem bis heute hauptsächlich ausgesessen und halten bei jedem Meter nach vorne die Handbremse angezogen.
Izbrisani oder „gelöscht“ sind alle Betroffenen bis heute, sagt Maja Ladić vom Peace Institute. Ihr Lebenslauf hat sich durch den Verlust ihrer Identität radikal verändert. Wenn sich Grenzen verschieben, rutschen Menschenrechte auf der Prioritätenliste nach unten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen