Skispringer über Neuanfang: „Wir sind große Gefühlssportler“
Severin Freund blieb bei der Nordischen Ski-WM in Oberstdorf bisher nur die Zuschauerrolle. Auf der Großschanze startet er einen neuen Anlauf.
taz: Herr Freund, wie geht es Ihnen bei dieser Weltmeisterschaft, bei der Sie bislang nur Zuschauer waren?
Severin Freund: Es war auf der kleinen Schanze nicht die schönste Situation gewesen. Ich wäre sehr gerne gesprungen, aber letztendlich hat sich Constantin Schmid durchgesetzt. Grundsätzlich wusste ich schon im Voraus, dass die kleine Schanze nicht unbedingt die einfachste Schanze für mich ist.
Kombinierer Johannes Rydzek war nach seiner Nichtnominierung für die Staffel als Fotograf an der Strecke. Was haben Sie während der Springen gemacht?
Ich habe teilweise die Sprünge mitkommentiert vom Kampfrichterturm. Die andere Perspektive vom Kampfrichterturm ist sehr aufschlussreich und ganz spannend. Wenn du im Wettkampfrhythmus drin bist, kommst du nicht so wahnsinnig viel zum Zusehen.
Was haben Sie dabei gesehen?
Ich habe festgestellt, wo es bei mir fehlt, dass ich nur 98 Meter weit springe und keine 103 Meter.
Was fehlt?
Mir fehlt auf der kleinen Schanze ein bisschen die Balance im Sprung. Wenn du mal ein bisschen zu viel machst oder ein bisschen zu spät dran bist zu drehen, dann ist „Game over“. Leute wie Weltmeister Piotr Zyla oder Karl Geiger springen raus und dann bewegt sich nichts mehr. Sie sind in der richtigen Position und können segeln.
Rechnen Sie sich für die Großschanze größere Chancen aus?
Ja. Von der Charakteristik ist die Schanze einfacher für mich.
32, verheiratet, Vater einer Tochter, Skispringer. Olympiasieger mit dem Team in Sotschi 2014, Weltmeister auf der Großschanze 2015, Skiflugweltmeister 2014.
Sie waren bei verschiedenen Weltmeisterschaften in verschiedenen Rollen dabei: 2011 in Oslo als Youngster mit Martin Schmitt, dann waren Sie 2015 in Falun Leitwolf und Goldjunge. Wie würden Sie Ihre heutige Rolle hier in Oberstdorf beschreiben?
Ich hatte auf der Kleinschanze nun mal die Rolle als Zuschauer, das ist auch etwas Neues. Ansonsten glaube ich, dass ich nach wie vor in dem einen oder anderen Moment ein wichtiger Teil des Teams sein kann, weil ich schon viel erlebt und mitgemacht habe. Auf der anderen Seite sind auch die jungen Athleten gestandene Sportler. Auch wenn die zum ersten Mal bei einer WM sind und viel lernen werden, haben sie einen klaren Blick, wohin sie wollen.
Sie hatten zwei Kreuzbandrisse innerhalb kurzer Zeit, dazu eine Operation am Meniskus. Haben Sie sich die Rückkehr so schwer vorgestellt?
Ich war schon ein bisschen überrascht, wie sich in der Zwischenzeit das Skispringen entwickelt hat. Ich hatte gedacht, dass ich näher dran bin. Das hat die Rückkehr schwerer gemacht.
Können Sie diese Entwicklung etwas konkretisieren?
Der Sprung ist noch mal schneller geworden. Er wird schneller gedreht und ist nach dem Schanzentisch schneller fertig. Wenn man sich die Topleute anschaut, dann verlieren sie nichts an Dynamik. Sowohl vom Absprung als auch vom Fliegen ist es noch einmal mehr geworden. Dass unser Sport nicht stehen bleibt, macht ihn auch so interessant.
Im Vergleich zu anderen Sportarten drängt sich der Eindruck auf, dass es Skispringern und Skispringerinnen besonders schwerfällt zurückzukommen. Hängt das mit der Entwicklung zusammen oder gibt es dafür auch physische Gründe?
Ich würde sogar sagen, dass es noch mehr Gründe gibt. Ein Grund ist sicher die rasante Entwicklung in unserem Sport. Als Skispringer sind wir relativ eingeschränkt, das Kreuzband zu „ersetzen“. Man hat die Operation, danach wandelt sich die Sehne, die als Kreuzband eingesetzt wird, über eine sehr lange Zeit in etwas Band-ähnliches um. Das Teil übernimmt dann wieder die Funktion des Kreuzbandes. Aber man verliert darüber sehr viele Rezeptoren.
Das tun die alpinen Skifahrer auch.
Aber als Alpiner kann man hergehen und sagen: Okay, das Kreuzband habe ich nicht mehr, also muss ich mir etwas Anderes überlegen, was die Funktion übernimmt. Also mache ich maximales Krafttraining und bekomme darüber wieder die Stabilität. Diese Variante ist bei uns schwierig, weil maximale Muskulatur auch maximales Gewicht bedeutet. Dann wird's bei uns schwierig.
Weil Skispringerinnen und Skispringer die Tendenz zum Leichtgewicht haben.
Jeder hat sein Idealgewicht, bei dem er sich gut spürt und seinen Körper gut fühlen kann. Davon willst du nicht weggehen. Dann kommt bei uns noch die mentale Komponente hinzu. In anderen Sportarten kann du dich leichter rantasten. Bei uns musst du den Sprung haben, der richtig in die Grube geht. Du musst feststellen: Zack, da funktioniert alles. Zack, da hält alles. Wir können schlecht auf 130 Meter anfangen, dann einen auf 132 Meter draufsetzen. Du brauchst den Sprung, der nicht 130, sondern 140 oder 145 Meter weit geht.
Die Alpinen benutzen spezielle Orthesen, um das Knie zu stabilisieren. Haben Sie so etwas auch schon einmal ausprobiert?
Mir wurde vorgeschlagen, so eine Sportorthese zu bauen, die auch beim Skispringen funktionieren würde. Ich muss aber sagen, dass ich das nicht 100-prozentig rational beantworten kann. Ich kann nur sagen, dass mir mein Gefühl gesagt hat: Nein, das will ich nicht. Am einen Haxn habe ich was dranhängen, am anderen Haxn habe ich nichts dranhängen. Dann fühlt es sich asymmetrisch an. Vielleicht ist meine Herangehensweise sturköpfig. Aber wir sind Gefühlssportler, in dem Moment war es auch eine Gefühlsentscheidung.
Nach den vielen Kreuzbandrissen wurden die Regeln geändert, die Keile müssen symmetrisch und dünner sein. War das der richtige Schritt?
Ich glaube ja. Ich glaube aber auch, dass es nicht der einzige Schritt gewesen sein kann. Das Knie ist ein anfälliges Gelenk bei uns. Da muss man dran bleiben, wachsam bleiben. Wir sind aber alle Leistungssportler und wollen auf dem obersten Niveau performen. Und deswegen wird keiner von uns etwas herschenken.
Was sind Ihre nächsten Ziele?
Auch wenn es jetzt nicht so stattfindet, wie man es sich erträumt hatte, war Oberstdorf für mich ein großes Ziel. Ich bin schon so alt, dass ich die Bilder von 2005 noch im Kopf habe. Generell geht der Blick nicht so weit: Er geht auf die WM, dann danach auf den Weltcup. Und dann gilt es erst einmal ein Fazit von der Saison zu ziehen. Dann schauen wir weiter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!