Skandalsport Schach: Der nächste Zug führt zum Gericht
Der Schachweltmeister bezichtigt Hans Niemann des Betrugs. Der reicht eine Klage ein, die seinen Ruf ruinieren oder die Schachwelt erschüttern wird.
Was seit Wochen die Schachwelt in Atem hielt, wurde am Donnerstagabend endgültig zum größten Skandal der Schachgeschichte. Mit Hans Niemanns Tweet „My lawsuit speaks for itself“ veröffentlichte der 19-jährige Amerikaner eine 44-seitige Klageschrift seiner Anwälte. Lange war auf eine Reaktion Niemanns zu den Betrugsvorwürfen von Weltmeister Magnus Carlsen und der Plattform chess.com gegen ihn gewartet worden. Aber dass sie in einer Klage mündet, die mindestens 400 Millionen Dollar Entschädigungssumme fordert, hatte niemand erwartet.
Überraschend ist zudem auch, dass Niemanns Klage sich nicht nur gegen Carlsen sowie chess.com richtet, sondern auch gegen den Chief Chess Officer des Portals, Danny Rensch, die von Carlsen mit Investoren gegründete Play Magnus Group (PMG), sowie den Weltklassespieler und Streamer Hikaru Nakamura.
Die insgesamt 202 Punkte umfassende Klageschrift zeichnet dabei zu Beginn Niemanns Weg zum Spieler nach, der nun in die Top 40 der Welt vorgestoßen ist. Allerdings wird schnell klar, dass da eine Überzeichnung Niemanns stattfindet. Schließlich war der dort als „chess prodigy“ bezeichnete Spieler bis vor zwei Jahren ein nur Insidern bekannter Internationaler Meister, dem niemand einen solch kometenhaften Aufstieg zugetraut hatte.
Natürlich wird chronologisch noch einmal der gesamte Ablauf des Skandals nachgezeichnet. Niemanns Sieg gegen Carlsen in Saint Louis, der Tweet von Carlsen nach der Partie, Nakamuras Kommentare im Stream, die Sperre von Niemanns Account durch chess.com, Carlsens Aufgabe nach zwei Zügen bei einem Turnier seiner PMG, dessen Erklärung danach sowie der „Niemann-Report“ von chess.com.
Abgesagte Partien
Neu ist unter anderem, dass Niemann vor der Unterzeichnung eines Vertrags als Teilnehmer des Weltklasseturniers im niederländischen Wijk aan Zee stand und die Veranstalter nach Bekanntwerden der Vorwürfe einen Rückzieher machten. Ebenfalls neu und aus deutscher Sicht besonders interessant ist der Punkt, dass es ein Match zwischen dem größten deutschen Talent Vincent Keymer und Niemann geben sollte, Keymer dem Match aber mittlerweile eine Absage erteilte. Die zu erwartenden Startgelder für solche Events liegen laut der Schrift zwischen 5.000 und 15.000 Dollar. Das Preisgeld käme noch hinzu.
Und so stützt sich die Klage am Ende auf die Punkte Verleumdung, Beleidigung, Missbrauch von Monopolstellung, Beeinträchtigung von Verträgen sowie private Verschwörung.
Niemann geht mit dieser Klage „all in“, denn er wird nun vor Gericht schwören müssen, nur in den von ihm genannten Zeiträumen betrogen zu haben. So sieht es auch der Sportrechtler Dr. Paul Lambertz im Gespräch mit der taz: „Wenn der Ruf so angegriffen wird, ist solch eine Klage auch der Versuch, sein Heil im Angriff zu suchen.“ Der Jurist glaubt zudem, dass es zum Prozess kommen wird. „Wenn die Klage eingereicht ist, wird das seinen Weg vor die Jury gehen.“
Es wird spannend zu sehen sein, was Niemanns Anwälte dort dem Bericht von chess.com entgegensetzen werden, der von Betrug in insgesamt 106 Partien sprach. Schließlich gilt die Betrugserkennung der Plattform als die beste der Schachwelt.
Letzte Chance für Niemann
Andererseits ist diese Klage auch die einzige Chance für Niemann, seinen Ruf wiederherzustellen. An den lukrativen Onlineturnieren der Play Magnus Group und chess.com wird er vorerst nicht teilnehmen können, auch Einladungen zu sonstigen Turnieren werden erst mal ausbleiben. Die Klageschrift führt sogar aus, dass er aktuell nicht einmal als Schachlehrer arbeiten kann, weil seine Reputation zerstört sei.
Aber auch für alle Angeklagten steht viel auf dem Spiel. Carlsen wird seine Anschuldigungen belegen müssen. Auch sein Ruf ist bedroht. Hat der Weltmeister wirklich unberechtigt die Integrität eines Großmeisters ruiniert? Welche Glaubwürdigkeit hätte der größte Spieler aller Zeiten noch, wenn er vor Gericht verurteilt würde?
Und chess.com, das mit der gerade laufenden Übernahme der Play Magnus Group dabei ist, sich ein Monopol in Sachen Onlineschach zu verschaffen, wäre wirtschaftlich in großer Not, sollte Niemann mit der Klage durchkommen. So geht es vor der Jury nicht nur um Niemann gegen die Angeklagten, es geht um die Zukunft der Schachwelt.
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