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„Sich weigern, Opfer zu sein“

Am 11. Juli 1995 begingen serbische Einheiten einen Genozid an der bosnischen Bevölkerung in Srebrenica. Die Künstlerin Šejla Kamerić spricht über ihre Suche nach der Wahrheit, warum die Wissenschaft hilft und was Kunst leisten kann, um ein kollektives Trauma mit aufzuarbeiten

Wem gehörte diese Jacke? Ansicht der Multimedia­installation „Ab uno disce omnes“ von Šejla Kamerić zu den forensischen Unter­suchungen von Massengräbern aus dem Bosnienkrieg, an der die Künstlerin seit 2015 arbeitet Foto: Videostill: die Künstlerin und Galerie Tanja Wagner, Berlin

Interview Sophie Tiedemann

taz: Frau Kamerić, „No teeth? A mustache? Smell like shit? Bosnian girl!“, diese Sätze sprayte 1994/95 während des Bosnienkriegs ein unbekannter niederländischer Soldat auf die Wand der Armeekaserne in Potočari, Srebrenica. Bis zu 450 Blauhelmsoldaten waren in der ostbosnischen Kleinstadt stationiert, um die Zivilbevölkerung zu schützen. Trotzdem konnten in der Woche des 11. Juli serbische Einheiten vor den Pforten der damaligen UN-Stellung ihre Opfer selektieren, mehr als 8.000 Bosniaken ermordeten sie bei Srebrenica. Ein Foto vom Graffiti des Soldaten überblendeten Sie für eines Ihrer Kunstwerke mit Ihrem Selbstporträt. Was ist die Geschichte hinter Ihrer Arbeit ­„Bosnian Girl“?

Šejla Kamerić: Der Fotograf Tarik Samarah zeigte mir damals seine Bilder aus Srebrenica. Über mehrere Jahre hinweg hatte er die Überlebenden des Genozids, die Exhumierung von Massengräbern, die Identifikation der Opfer und deren Wiederbestattung dokumentiert. Eines seiner Fotos zeigte ein Graffiti, das ein UN-Soldat, der während des Krieges in Srebrenica stationiert war, hinterlassen hatte. Die Botschaft dieses Graffiti hat mich tief bewegt. Sie traf mich auf einer persönlichen Ebene. Ich verwandelte sie in ein Plakat, gemeinsam mit einem Porträt von mir, das Tarik aufgenommen hatte. Ich wollte es im öffentlichen Raum, auf der Straße zeigen – ganz bewusst ohne die Beteiligung anderer Menschen oder Institutionen. Ich wollte die Last dieser Botschaft nicht auf andere abwälzen, ich wollte sie selbst tragen. Das war noch, bevor es soziale Medien in der Form gab, wie wir sie heute kennen. Doch durch Zeitungsanzeigen, Postkarten und Plakate wurde „Bosnian Girl“ fast augenblicklich bekannt. Ich kontaktierte verschiedene Medienhäuser und bat sie, das Bild zu veröffentlichen – und alle kamen dieser Bitte nach. Es gab jedoch auch Verwirrung und Kritik. Als die „Bosnian Girl“-Plakate am 11. Juli 2003 in den Straßen von Sarajevo auftauchten, waren manche Menschen schockiert. Die US-Botschaft in Bosnien ordnete an, dass alle Plakate in der Nähe der Botschaft entfernt werden sollten. Doch der bedeutendste Moment für mich war, als sich die Mütter von Srebrenica mit dem Bild identifizierten.

taz: Die Mütter von Srebrenica sind eine Vereinigung mehrerer tausend Frauen, deren Angehörige im Genozid von Srebrenica ermordet wurden. Sie stritten jahrzehntelang für die Strafverfolgung der Täter und für ein würdiges Erinnern. Außerdem verklagte die Vereinigung den niederländischen Staat erstmals 2007 auf Schadensersatz. Ein Foto zeigt, wie einige von ihnen das Bild „Bosnian Girl“ vor dem Amt des niederländischen Ministerpräsidenten hochhalten. Wie nahmen Sie diesen Moment wahr?

Kamerić: Für mich bedeutete es, dass ich erfolgreich war: Mein Körper wurde zur universellen Darstellung eines Opfers, das sich weigerte, nur Opfer zu sein.

taz: Welche Rolle spielt Aneignung in Ihrer Arbeit – vom Körper, von Identität, von Erinnerung?

Kamerić: Seit fast 30 Jahren nutze ich Kunst als ein Mittel der Kommunikation, der Selbstverortung und Selbstreflexion – und natürlich auch, um die Welt um mich herum zu spiegeln. Kunst ist ein kontinuierliches Protokoll, das Raum schafft, um unterschiedliche Perspektiven zu verstehen, neue Identitäten zu formen – oder sich von jenen zu befreien, die uns von außen auferlegt wurden.

taz: Die Verantwortlichen des Genozids von Srebrenica hatten viel gelogen und vertuscht. Nach den Morden exhumierten serbische Einheiten die Leichen erneut, verteilten sterbliche Überreste über mehrere Massengräber hinweg, um die Verbrechen zu verschleiern. Bis heute werdem die sterblichen Überreste von mehr als 1.000 Opfern vermisst. In Ihrer Arbeit „Forensic Archive: From One Learn All“ in Kooperation mit dem ICMP (International Commission on Missing Persons) und dem Srebrenica Memorial Center machen Sie Methoden der forensischen Wissenschaft erfahrbar.

Kamerić: Ich möchte nicht über polarisierte historische Wahrheiten sprechen, sondern über wissenschaftliche Wahrheit. Geschichte sollte als wissenschaftliche Disziplin betrachtet werden. Sie erlaubt es uns, auf unbestreitbare Fakten zu bauen und ein wahres Verständnis dessen zu gewinnen, was geschehen ist. Eine meiner Aufgaben bestand darin, eine große Menge unterschiedlicher Daten – Beweise, Zeugenaussagen, Bilder, Karten und juristische Dokumente – zusammenzutragen und in eine künstlerische Form zu übersetzen. Über drei Jahre hinweg arbeitete ich eng mit 20 Forschern zusammen, um alle forensischen Beweise des Krieges wissenschaftlich zu untersuchen.

taz: Ist es nicht zu viel von Kunst verlangt, dass sie historische Wahrheiten vermitteln muss?

Kamerić: Kunst sollte diese Verantwortung nicht tragen müssen. Justiz und Politik sollten sich mit den Fakten befassen, damit die Kunst frei sein kann, Fragen zu stellen und neue Antworten zu suchen. In einer Zeit, in der moralische und ethische Werte erodieren, müssen wir erkennen, dass die Justiz und Politik ihre Rollen erfüllen müssen. In Kunstwerken sollte Raum für unterschiedliche Antworten sein, für Antworten, die sich im Laufe der Zeit ändern können. Daneben stehen die Fakten, und hier kommt die Wissenschaft ins Spiel. Kunst darf niemals die Bedeutung der Wissenschaft untergraben – und umgekehrt.

taz: Wie nähert man sich als Künst­le­r*in dem Thema dem Genozid, das so tief gehende individuelle und kollektive Wunden in sich trägt?

Šejla Kamerić vor ihrem Poster „Bosnian Girl“ Foto: Hamza Kulenovic
Šejla Kamerić

Die bildende Künstlerin wurde 1976 in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo geboren.

Ihre Arbeiten umfassen unter anderem Film, Fotografie, Installa­tion und Textilkunst. Motive ihrer Kunst sind persönliche Erinnerung und kollektives Trauma. Dabei steht die Schwere ihrer Themen häufig im Kontrast zu ihrer leichten Ästhetik und den zarten Materialien.

Kamerić nimmt weltweit an Ausstellungen teil, etwa in der Tate Modern in London oder im Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris.

Kamerić: Der Genozid von Srebrenica wird auf die ehrlichste, schönste, kraftvollste und zugleich schmerzhafteste Weise durch Kunst festgehalten. Am Anfang meiner Karriere, als ich „Bosnian Girl“ schuf, war meine Arbeit eng mit meinen Emotionen verbunden und beruhte in erster Linie auf persönlichen Erfahrungen. Sie drehte sich um Themen wie Krieg, Verlust, Vertreibung und sexualisierte Gewalt. Mit der Zeit durchlief ich – durch Therapie und meine eigene künstlerische Praxis – einen Heilungsprozess. Er ermöglichte mir, meine Emotionen nach außen zu tragen. Das versetzte mich in eine privilegierte Position, aus der heraus ich beginnen konnte, auch die Geschichten anderer auf eine neue Weise zu reflektieren.

taz: Wie spiegelt sich Geschichte in der Kunst?

Kamerić: Historisch stand Kunst immer für die komplexen Emotionen, mit denen wir im Umgang mit Trauma konfrontiert sind. Jedes Kunstwerk, das aus Schmerz und Trauma entsteht, genauso wie unsere Auseinandersetzung damit, hilft uns, damit umzugehen, sei es individuell oder kollektiv. Gleichzeitig ist es wichtig anzuerkennen, dass Heilung nie die Verantwortung von Kunst ist. Kunst ist ein wunderbares Werkzeug für alle. Doch sobald Kunst politisiert wird, verliert sie ihre Kraft, weil sie ihre Freiheit verliert. Heute wird oft vergessen, dass Kunst vor allem Freiheit bedeutet: die Freiheit, uns auszudrücken, und die Freiheit, frei zu leben – befreit von Machtstrukturen. Eine der wertvollsten menschlichen Fähigkeiten ist es, Kunst zu schaffen und sie genießen zu können.

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