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Shorttrackerin Anna SeidelNesthäkchen mit Lifestyle

Anna Seidel ist so etwas wie die Shorttrack-Botschafterin in Deutschland. In Südkorea hat sie auch die Abgründe des Leistungssports kennengelernt.

„Mein Sport ist modern, spannend, unvorhersehbar. Es passiert immer etwas“, sagt Anna Seidel Foto: dpa

Berlin taz | Sie kennt Korea. Im Sommer vor gut zwei Jahren packte sie ihre Sachen und flog nach ­Seoul. Anna Seidel wollte wissen, wie die das machen da drüben. In Südkorea ist Shorttrack Nationalsport, und heute, wenn die Wettbewerbe mit dem 1.500-Meter-Lauf der Männer (11 Uhr, MEZ) in Gangneung losgehen, erwartet Südkorea nichts anderes als die erste Medaille. Das Interesse ist groß, die Erfolgsliste lang. Und groß war auch die Neugier von Anna Seidel, als sie die südkoreanische Trainerin Jeon Ji-Soo fragte, ob sie nicht ein bisschen mittrainieren könnte bei ihnen.

Seidel, die Dresdnerin, kam schließlich in der Korea National Sports University in Seoul unter und kurvte dann gut drei Wochen mit Junioren übers 111 Meter lange Oval. Es war hart für die damals 16-Jährige, auch wenn sie von ihrem Freund begleitet wurde. „In Südkorea gibt es eigentlich nur eine Devise: Umfang, Umfang, Umfang. Und die, die dieses harte Training überleben, sind dann im Team. Das ist brutal“, sagt sie. Dreimal am Tag wurde trainiert, sieben Tage in der Woche. Es ging schon um sieben Uhr in der Frühe los.

Das Pensum hat Seidel nur mit einem Mittagsschlaf überlebt. Manchmal ist sie in der U-Bahn einfach eingenickt, so kaputt war sie. „Am letzten Tag, bevor ich zurückgeflogen bin, haben wir 100 Runden gemacht. 100 am Stück!“ Das Extremste, das sie im Training in Deutschland machen, sind 35, höchsten 40 Runden hintereinander. Sie musste nach 45 Runden eine Pause machen, „aber 12-jährige koreanische Mädchen sind das zu Ende gelaufen, die geben dort auf die Gesundheit der Sportler echt gar nichts. Wer durchkommt, hat Glück, und wer nicht, der nicht. Das war eine interessante Erfahrung, echt Wahnsinn.“

Manchmal wird aus Drill aber auch echte Drangsal – wie man an einem Vorfall sieht, der vor den Spielen in Südkorea für Wirbel gesorgt hat. Shorttrack-Star Shim Suk-Hee ist im Jincheon National Training Center, etwa 90 Kilometer südlich von Seoul gelegen, von einem Trainer geschlagen worden und zwar so massiv, dass sie kurz im Krankenhaus behandelt werden musste. Der Trainer wurde suspendiert. Die koreanische Eislauf-Union (KSU) verlautbarte, der Coach habe zugeschlagen, weil die Athletin seine Meinung nicht respektiert habe und er sie auf diese Weise zu einer besseren Leistung anhalten wollte. Die KSU hatte zuvor versucht, die Sache zu vertuschen. Als Staatspräsident Moon Jae-In das Trainingszentrum am 17. Januar besuchte und Shim fehlte, da wurde sie mit einer „Erkältung“ entschuldigt.

Vorwurf der Unmenschlichkeit

Das ist nicht das einzige Problem, das der Verband in diesen Tagen mit sich herumschleppt. Die Eisschnellläuferin Noh Seon-Yeong klagte die KSU an, warf ihr Unmenschlichkeit im Umgang mit Sportlern vor. Ihre Beweggründe: Erst wurde sie wegen einer Nachlässigkeit nicht für die Winterspiele im Heimatland berücksichtigt – was später noch revidiert werden konnte –, und dann hatte sie noch eine Rechnung mit den Funktionären im Todesfall ihres Bruders Noh Jin-Kyu, eines Shorttrackers, zu begleichen.

Sie warf dem Verband vor, die Krebserkrankung ihres Bruders vor vier Jahren bewusst ignoriert zu haben. Selbst als er große Schmerzen hatte, habe er weitertrainieren müssen, damit der Shorttrack-Nation keine Medaille bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi entgehe, sagte Noh. Tatsächlich hatte man seine Behandlung aufgeschoben, doch Noh Jin-Kyu schaffte es nicht mehr nach Sotschi, weil seine Knochen schon zu brüchig waren. Er starb im April 2016.

Anna Seidel kennt diese Geschichte, und vor allem beim Thema Knochenbrüche ist ihr nicht wohl zumute. Sie ist vor zwei Jahren so hart in die Bande gekracht, dass ein Brustwirbel brach und etliche Bänder an der Wirbelsäule rissen. Ihr mussten Schrauben und kleine Stahlplatten implantiert werden, die mittlerweile aber wieder draußen sind. „Die Verletzung schränkt mich vom Kopf her gar nicht mehr ein“, sagt sie, „und körperlich bin ich zu 95 Prozent wiederhergestellt.“ Sie könne keinen perfekten Katzenbuckel mehr machen. „Die Segmente sind jetzt etwas steifer, aber sie geben mir gleichzeitig mehr Stabilität. Ab und zu habe ich Schmerzen, aber die hatte ich vorher auch immer.“

Sie kokettiert auf Facebook mit ihrem Aussehen, schreibt alle Texte auf Englisch und weiß um ihre Wirkung

Wie jede Sportlerin will sie nicht so gern über Negatives in der Vergangenheit sprechen, viel lieber über das Jetzt, in dem sie wieder alles im Griff hat und sich als It-Girl des Shorttracks inszenieren kann, samt Red-Bull-Sponsorenvertrag und einem Instagram-Account („darkredgrape“), auf dem ihr über 25.000 Abonnenten folgen. Sie kokettiert mit ihrem Aussehen, schreibt alle Texte auf Englisch und weiß um ihre Wirkung, was zu den üblichen „Hey, cool, so sweet“-Kommentaren ihrer Bewunderer und Follower führt.

Sie weiß ganz gut, was man in einer Aufmerksamkeitsökonomie, und nichts anderes ist der Eventsport, tun muss. Sie ist bei ProSieben in einer Show („Beginner gegen Gewinner“) auf- und zum Gaudi-­Duell gegen Eishockeyspieler des EHC München angetreten. Bei Wettkämpfen tritt sie generell nur mit einer Dose vor die Kamera. Sie lasse sich freilich „nichts aufdrücken“, versichert sie, „und wenn es gar nicht zur Umgebung passt, dann muss ich auch nicht auf Krampf die Dose in der Hand haben.“

Das Training in der nahen Ferne funktionierte gut

Der Lifestyle-Konzern aus Österreich hat verwegene Typen in seinem Portfolio, Anna Seidel passt trotz ihrer rasanten Fahrten übers Eis und der enormen Fliehkräfte in der Kurve nicht so richtig dazu. Im Sport mag sie manchmal das Ex­tre­me suchen, im Alltag ist sie eher das Nesthäkchen, recht eng an ihre Familie gebunden. Es war für sie also nicht nur ein riesengroßer Schritt, in Seoul zu trainieren, sondern auch sehr schwer, für ein halbes Jahr nach Utrecht zu ziehen, um sich mit ein paar anderen deutschen Läufern auf die Olympischen Winterspiele vorzubereiten.

Die Deutsche Eisschnelllauf-Gemeinschaft (DESG) hatte im Sommer plötzlich keinen Shorttrack-Bundestrainer mehr. Eine Lösung musste schnell gefunden werden, und die lag in Holland. Anna Seidel bezog mit Bianca Walter, die es auch nach Pyeongchang geschafft hat, einen Bungalow auf dem Zeltplatz „Bos Park“ in Bilthoven. Ihre Trainerin hieß fortan Wilma Boomstra, eine resolute Frau mit üppiger blonder Mähne. Sie heizte den Deutschen ein. Es wurde weniger, dafür intensiver trainiert, hart an der Lauftechnik gearbeitet.

Das Training in der nahen Ferne funktionierte gut, obwohl es reichlich Gründe zum Maulen gegeben hätte: „Dort hatte sogar das Publikumslaufen Vorrang vor uns Olympioniken. Das kann eigentlich nicht sein.“ Es ging sogar verdammt gut. Sie hat sich physisch weiterentwickelt, aber nicht nur. “Ich bin auch etwas weiter geworden im Kopf“, sagt Seidel über ihre mentale Reifung.

Jetzt möchten sie Wilma Boomstra am liebsten nach Dresden holen, als offizielle Bundestrainerin. Das wäre nicht unwichtig für die Entwicklung des Shorttracks in Deutschland. Es geht ja mit dem Eislauf auf dem kleineren Oval nicht so richtig voran, zum Ärger von Anna Seidel: „Mein Sport ist modern, spannend, unvorhersehbar. Es passiert immer etwas. Es gibt spektakuläre Stürze, die das Publikum sehen will. Deswegen ist es für mich unverständlich, warum es beim Zuschauer hierzulande nicht so ankommt.“

Sie hat sich der Sache jetzt persönlich angenommen. Die 19-Jährige ist so etwas wie die inoffizielle Shorttrack-Botschafterin der Bundesrepublik Deutschland. Mit gerade mal 15 Jahren an den Winterspielen in Sotschi teilzunehmen – das hat schon mal viel Aufmerksamkeit gebracht. Der dritte Platz über 1.000 Meter bei der Europameisterschaft Anfang Januar in Dresden – war auch nicht schlecht. „Ich mache das alles für mich“, sagt Anna Seidel, „aber ich mache es auch, um Shorttrack in Deutschland nach vorn zu bringen.“ Das ist eine Lebensaufgabe.

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