Sexualisierte Gewalt im ÖPNV: Der Zu-Nah-Verkehr
Wer sexualisierte Gewalt im öffentlichen Nahverkehr erlebt, sucht oft vergeblich nach Hilfe. BVG und S-Bahn könnten etwa von London lernen.
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Dem Schock, der Angst folgt Orientierungslosigkeit: Was kann sie jetzt tun? Während sie darüber nachdenkt, ob sie am nächsten Tag wieder eine kurze Hose tragen kann, fährt der Täter einfach weiter S-Bahn. K. will den Vorfall wenigstens melden. Zuhause sucht sie am Laptop nach einer Meldestelle für Sexualisierte Gewalt im ÖPNV – Fehlanzeige. Auch sonst findet sie keine Infos darüber, wohin sie sich wenden kann.
2021 zählte die Berliner Polizei 403 „Sexualdelikte im ÖPNV“. Dies zeigt zwar, dass sexualisierte Gewalt in Bus und Bahn mit etwas mehr als einem Vorfall am Tag ein allgegenwärtiges Phänomen ist. Aber es sagt wenig über die wahren Ausmaße des Problems aus, denn die Dunkelziffer ist hoch. Viele Fälle werden nicht zur Anzeige gebracht. Auch K. stellte erst eine Anzeige, als eine Freundin, die bei der Polizei arbeitet, ihr dazu riet. „Ich selbst kam überhaupt nicht auf die Idee, die Polizei einzuschalten. Das kam mir irgendwie zu groß vor.“ Dabei beschäftigt sich Vicky K. sowohl privat als auch beruflich mit Feminismus und Geschlechtergerechtigkeit. Wenn selbst für sie die Hürden für eine Anzeige hoch sind; wie ist es dann für Betroffene, die kein Deutsch können, weniger Erfahrung mit bürokratischen Vorgängen haben oder keinen gut informierten Freundeskreis, der weiterhelfen kann?
Niedrigschwelliges Angebot
Ein niedrigschwelliges Angebot will die Initiative „Catcalls of Berlin“ machen. Sie betreibt einen Instagram-Account, an den Menschen ihre Erfahrungen mit Catcalling im öffentlichen Raum schreiben können. Hier landet vieles, was sonst nirgendwo gemeldet wird: „Hinterherpfeifen, vulgäre Sprüche, Anfassen, Exhibitionismus, sowas“, erklärt Hannah, die bei Catcalls of Berlin aktiv ist. “Wir wollen Betroffenen zeigen, dass sie gehört werden.“
Was an Übergriffen im ÖPNV an Catcalls gemeldet wird, ist erschreckend: “Er streichelte mich in der vollen Bahn am Po. Als ich mich umdrehte, machte er einen Kussmund und streichelte weiter.“ “Er hat sich auf den Bahnsteig gelegt, um mir, 14, unter den Rock zu schauen.“ “In der Ringbahn: Er fing an, sich in die Hose zu fassen und zu stöhnen.“ Solche Übergriffe geschehen im gesamten öffentlichen Raum. „Aber in Bus und Bahn ist es oft besonders bedrohlich, weil es geschlossene Räume sind und man der Situation nicht einfach entfliehen kann“, so Hannah von Catcalls.
Was unternehmen die Berliner Verkehrsbetriebe dagegen? Ein Interview zu dem Thema lehnt die BVG ab, Fragen könnten nur schriftlich beantwortet werden, zumal die Zuständigkeit bei strafrechtlich relevanten Vorfällen bei der Berliner Polizei liege. Doch die sieht die Hauptverantwortung bei der BVG: „Grundsätzlich obliegen Maßnahmen zur Sicherheit der Fahrgäste der BVG.“ Die BVG kann keine konkreten Maßnahmen gegen sexualisierte Gewalt benennen. Stattdessen schreibt sie: Man arbeite mit der Polizei daran, „ein Höchstmaß an Sicherheit – und das umfasst auch die subjektive Sicherheit – zu bieten. Dieser Anspruch gilt für alle Gruppen von Fahrgästen“.
Streife und Videokameras in der S-Bahn
Auch die S-Bahn verweist auf allgemeine Sicherheitskonzepte: Deutschlandweit gebe es eine Rund-um-die-Uhr-Streife von eigenen Sicherheitskräften und der Polizei. Außerdem wolle man die Zahl der Videokameras ausbauen. Und auch hier der Verweis auf die in ihren Anlagen zuständige Bundespolizei. Immerhin erklärt sich ein Sprecher zum Interview bereit. Die Bundespolizei führe regelmäßig in „Präventionswochen“ Trainings mit den Verkehrsbetrieben durch, Schulungen zum Umgang mit sexualisierter Gewalt gibt es allerdings nicht.
Das Problem wird auch nicht priorisiert, lässt zumindest die zweite Antwort des Sprechers erahnen: „Prävention ist wichtig, wir können aber nicht alles zur gleichen Zeit machen, unsere Ressourcen sind endlich.“ Zuletzt habe es etwa wieder Fälle von S-Bahn-Surfen gegeben: “Dort geht es um schwerste Verletzungen und sogar Tod.“ Man würde sich deshalb zunächst diesem Themenfeld widmen.
Stefanie Lohaus von der feministischen Forschungsorganisation EAF kennt dieses Argument: „Dass die Datenlage so schlecht ist, führt dazu, dass das Problem nicht ernst genommen wird, so dass verantwortliche Stellen sagen können: Wir müssen nicht tätig werden, weil es kaum Vorfälle gibt.“ Lohaus, die zu sexualisierter Gewalt im öffentlichen Raum arbeitet, fordert daher, die Verkehrsbetriebe sollten selbst Daten über Übergriffe und Belästigung erheben, so wie es zum Thema Kundenzufriedenheit ganz selbstverständlich passiert.
Notrufnummer in Londoner U-Bahn
Die Londoner U-Bahn geht hier voran. In einer Kampagne gegen sexualisierte Gewalt wurde in den Bahnen eine Telefonnummer ausgehängt, unter der Betroffene Vorfälle unkompliziert melden können. Aushänge erklären, dass auch Belästigungen wie Anstarren nicht toleriert werden. In der Berliner U-Bahn dagegen beschäftigen Hinweisschilder sich mit Maulkörben für Hunde oder dem Verbot von Eisessen. Für Hinweise auf Sachbeschädigungen wird eine Belohnung von bis zu 1.000 Euro ausgelobt, aber nicht für Hinweise auf sexualisierte oder rassistische Gewalt. „Ich würde mir wünschen, dass das Thema Belästigung im ÖPNV genauso ernst genommen wird, wie andere Themen auch“, sagt Lohaus.
Dabei sind die Hürden für Verbesserungen gar nicht hoch. Ein Video mit klarer Botschaft auf dem Werbebildschirm, Schulungen für Mitarbeitende zum Umgang mit Vorfällen sexualisierter Gewalt oder Aushänge mit Infos für Betroffene und Zeugen. Zum Beispiel darüber, dass es wichtig ist, Übergriffe schnell bei der Polizei zu melden, weil die Videoaufzeichnungen im Berliner ÖPNV sonst aus Datenschutzgründen nach 48 Stunden gelöscht werden.
Diese Information hätte auch Vicky K. geholfen. Als sie schließlich ihre Anzeige stellte, ist diese Frist abgelaufen, die Videoaufzeichnungen sind bereits gelöscht. Stattdessen wird sie von der Polizei zur Täteridentifizierung geladen. In der Bildkartei, die ihr gezeigt wird, ist der Mann aus der S-Bahn nicht dabei. „Ich habe alles getan, was ich tun kann“, sagt sie. „Jetzt heißt es warten.“ Und fügt hinzu: „Zumindest taucht der Fall jetzt in der Statistik auf.“
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