Sexismus im Alltag: Das kleine Unbehagen

Ein aufgesprühter Penis, ein anzüglicher Witz – es sind diese winzigen Grenzverletzungen von Männern, die Frauen aus dem Tritt bringen sollen.

Eine Graffitspraydose

Die kleine Grenzverletzung: Muss es denn immer das Penis-Motiv sein? Foto: unsplash/Krisztian Matyas

Neulich stand ich im Stau und fuhr eine halbe Stunde lang notgedrungen einem Container mit einem ejakulierenden Penis hinterher. Der Penis war aufgesprüht und gehörte vermutlich nicht zum Grunddesign des Containers (darüber dachte ich circa zwei Minuten gründlich nach); vermutlich wusste der Fahrer gar nicht, was seine Hintermänner beziehungsweise -frauen sahen (nochmals zwei Minuten), oder vielleicht wusste er es halt doch und fand es witzig (Meinungswechsel nach weiteren zwei Minuten). Der, der es aufgesprüht hatte, hatte vermutlich erst recht nicht darüber nachgedacht, wer diesen Penisumriss alles zu Gesicht bekommen würde. Andererseits: Sprüht man irgendwas irgendwohin, ohne implizit jemanden vor Augen zu haben, der das Gesprühte später sieht?

Wer mitgerechnet hat, weiß, dass jetzt noch gut zwanzig Minuten Stauzeit übrig blieben; und in denen dachte ich, dass genau das auch Hauptmerkmal einer sexistischen Belästigung auf niedrigem Niveau ist: dass frau sich diffus „belästigt“ fühlt, es aber schwerfällt zu sagen, warum. Ich meine jetzt nicht Angrabschen oder eindeutig diskriminierende Witze. Ich meine kleine Anzüglichkeiten und Gesten, die bewirken können, dass frau sich unwohl fühlt in ihrer Haut, während der Verursacher sagen kann: „Weiß gar nicht, was du hast.“

Elementar ist, dass es sich eben doch um einen bewussten Akt der Kommunikation handelt; der Witzemacher oder Grafittisprayer „redet“ durchaus vor Publikum und braucht dieses auch. Denn das, was er sagt oder sprüht, SOLL eine kleine Grenzverletzung darstellen. Man bringt Sex oder Nacktheit dort ins Spiel, wo beides nicht hingehört beziehungsweise nicht von allen Beteiligten gewollt oder erwartet wird. Nun ist das mit den Erwartungen so eine Sache. Es kann ja sehr nett sein, irgendwo auf Sex zu treffen, wo frau keinen erwartet hätte. Berührungen, flirtive Tonlagen – sie alle können unvermutet und dennoch beziehungsweise gerade deswegen toll sein. Überall, wo Menschen aufeinandertreffen, gibt es Missverständnisse; so kann man und frau auch das, was der/die andere erfreut, kolossal falsch einschätzen. Jeder auf Beidseitigkeit abzielende Annäherungsversuch kann schiefgehen, und dann zieht man sich zurück und bittet eventuell um Entschuldigung.

Ich glaube aber nicht, dass sich irgendwer beim Aufsprühen dieses Penis gedacht hat: Au ja, da mach ich mal einer Frau (oder einem Mann?) eine kleine Freude und bringe Sex in den Alltag, wo sonst keiner ist. Nein, die Person wird eher so im Schenkelklopfhumor gedacht haben: Höhö, seht ihn an, den von mir aufgesprühten Penis. Oder, falls Sie das Beispiel des Penis etwas überstrapaziert finden, denken Sie bitte an einen leicht anzüglichen Witz, den ein Kollege in einem beruflichen Kontext plötzlich erzählt. Es ist weniger der Scherz selbst, der bewirkt, dass sich die Kollegin leicht unbehaglich fühlt; sondern die Tatsache, dass der Kollege diese winzig kleine Grenzverletzung beabsichtigt hat. Er wollte sie aus dem Tritt bringen, und damit brachte er sie aus dem Tritt.

Es geht um Macht

Warum aber wählte er dazu das Thema Sex? Der Kollege hätte ja auch ganz plötzlich anfangen können, an den Völkermord in Ruanda zu erinnern; bei einem Gespräch über, sagen wir, Marketingmaßnahmen zum Verkauf von Jalousien und Markisen hätte dies sicher für Irritationen gesorgt. Oder der Sprayer hätte statt des Penis einen fliegenden Pinguin sprühen können, auch darüber hätte ich sicher nachgedacht. Es gibt sehr viele Möglichkeiten, Mitmenschen zu irritieren; was ist der Unterschied zu einer sexuellen Belästigung?

Wir leben in einer Gesellschaft, die die sexuellen Wünsche von Männern ungleich ernster nimmt als die von Frauen

Sorry, wenn ich jetzt das Offensichtliche schreibe, aber: Es geht um Macht. Ich muss immer wieder an einen gewissen Politiker denken, der sich mit einer Journalistin zu einem Interview traf und „wie nebenbei“ etwas über Brüste sagte. Worin liegt der Kick bei so was? Jemand macht so etwas schlicht, weil er es kann. Man fasst dabei keine Brüste an, man kriegt nicht mal welche zu sehen; aber immerhin kann man der Frau, die einem nie im Leben ihre Brüste anfassen oder sehen lassen würde, kurz signalisieren: „Zwischen uns ist diese Grenze, die mich von deinen Brüsten trennt, und die übertrete ich mal rasch, ohne dass du es verhindern kannst.“

Aber warum funktioniert das nicht umgekehrt? Auch das liegt an der Verteilung von Macht. Wir leben in einer Gesellschaft, die die sexuellen Wünsche von Männern ungleich ernster nimmt und sichtbarer werden lässt als die von Frauen; in der traditionell viel mehr Frauen von Männern sexuell benutzt wurden als umgekehrt; in der fast jede Fernseh- oder Kinoszene, in der Menschen zweierlei Geschlechts Sex haben, diesen dann als „geglückt“ zeigt, wenn ER bei der Penetration gekommen ist und SIE gleichzeitig wie durch ein Wunder aufjauchzt; und in deren Kulturgeschichte es von Vergewaltigungen, die als „Verführungen“ geschönt werden, nur so wimmelt.

Und die Grenzen von Männern?

Allerdings, das haben auch viele Beiträge zur MeToo-Debatte angesprochen, stärken wir Frauen und Mädchen nicht automatisch, indem wir einander ständig als verletzbare Opfer ansehen, die beschützt gehören, wo sie gehen und stehen. Was hilft einem heranwachsenden Mädchen mehr, ein gutes Körpergefühl und sexuelle Sicherheit zu entwickeln: Wenn die Eltern sie nicht allein im Wald spielen lassen, weil jemand sie dort überfallen könnte – oder sie zu ermutigen, allein in die Welt hinaus und auch in solch einen Wald zu gehen? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Die ständige Mahnung, dass wir vergewaltigt werden könnten, lähmt uns; aber eine erlebte Vergewaltigung lähmt eben auch.

Und noch etwas ganz anderes weiß ich nicht: ob heterosexuelle Frauen bisweilen die Grenzen von Männern in unseren Annäherungs- und Flirtversuchen nicht hinreichend respektieren. Aber das ist ein heikles, selten angesprochenes Thema, und ich bin ausnahmsweise einmal froh, dass mein heutiger Kolumnenplatz zu Ende ist.

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Hilal Sezgin studierte Philosophie in Frankfurt am Main und arbeitete mehrere Jahre im Feuilleton der Frankfurter Rundschau. Seit 2007 lebt sie als freie Schriftstellerin und Journalistin in der Lüneburger Heide. Zuletzt von ihr in Buchform: „Nichtstun ist keine Lösung. Politische Verantwortung in Zeiten des Umbruchs.“ DuMont Buchverlag 2017.

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