Serie „I May Destroy You“: Ausweg aus dem Trauma
Die neue Serie von Michaela Coel verarbeitet sexualisierte Gewalt, die Coel selbst erfuhr. Und zeigt Schwarze Frauen jenseits von Klischees.
Wer die ambitionierte Drehbuchautorin und Schauspielerin Michaela Coel fragt, wovon ihre neue Serie „I May Destroy You“ handelt, wird keine eindeutige Antwort erhalten. „Es geht um alles“, erklärte die 33- jährige im US-Talkformat „The Daily Show“, und sie könnte recht damit haben. „I May Destroy You“ erzählt eine Geschichte über Sexualität, Gewalt, race, Klassenzugehörigeit und Identität.
Die BBC-Produktion löste bei ihrer Veröffentlichung in Großbritannien und den USA einen riesigen Hype aus und wurde unter anderem vom Guardian als beste Serie des Jahres gepriesen. Andere Journalist:innen bezeugen der Serie Einzigartigkeit und die Fähigkeit, Tabus endlich aufzubrechen. Serien, die sich mit sexualisierter Gewalt auseinandersetzen, gab es in den letzten Jahren so einige, was also macht Coel so viel besser?
Die Serie steigt mit der Bestsellerautorin Arabella ein, gespielt von Coel selbst, die damit kämpft, den ersten Entwurf ihres neuen Buchs rechtzeitig fertigzustellen. Weil sie nicht vorankommt, beschließt sie, sich in der Nacht vor Abgabe mit Freund:innen in einer Bar zu treffen. Es wird getrunken, gelacht und getanzt. Am frühen Morgen kommt Arabella vor ihrem Laptop wieder zu Bewusstsein, ohne Erinnerung daran, wie sie dort gelandet ist.
Lediglich die verschwommene Vision eines Mannes ist ihr geblieben, der auf einer Toilette jemanden sexuell misshandelt. Arabella realisiert, dass sie unter Drogen gesetzt wurde. Im Laufe der zwölf Episoden begeben sich die Zuschauer:innen mit ihr auf die Suche nach der letzten Nacht. Immer wieder wird sie von Flashbacks heimgesucht. Erst beim Verhör durch die Polizei wird der Protagonistin bewusst, dass sie es war, die vergewaltigt wurde.
„I May Destroy You“, ab Mo., 19. 10. bei Sky Ticket und Sky Q zum Streaming, ab Sa., 24. 10., 20.15 Uhr, Sky Atlantic
Fiktive Verarbeitung von Coels Erfahrungen
Ein Schicksal, dass Michaela Coel mit ihrer Serienheldin teilt. „I May Destroy You“ erinnert an ihre eigene Geschichte. Nicht nur, dass sie die Story selbst verfasste, produzierte und auch Regie führte – es ist eine fiktive Verarbeitung der sexualisierten Gewalt, die sie erlebt hat.
Denn auch Coel wurde 2016 von Fremden etwas ins Getränk gemischt. Auch Coel wurde vergewaltigt, wie sie 2018 in einer Rede beim Edinburg TV Festival erzählte. Die Britin arbeitete damals an der Fortsetzung ihres preisgekrönten Erstlingswerks: der gefeierten Serie „Chewing Gum“. In dieser versucht eine junge, streng religiös erzogene Frau verzweifelt, ihre Jungfräulichkeit zu verlieren. Das Stück, aus dem die Serie später geboren werden sollte, schrieb Coel bereits während ihrer Zeit an der Guildhall School of Music and Drama, an der sie 2012 ihren Abschluss machte.
Chewing Gum machte Coel über Nacht berühmt. Erst in Großbritannien und nach der Ausstrahlung auf Netflix auch weltweit. Sie wurde mit Preisen ausgezeichnet und von heute auf morgen zu einer der meistgepriesenen Newcomerinnen der britischen Filmwelt erklärt. Es folgten von Kritiker:innen gefeierte Rollen in „Black Mirror“ und der Netflix-Serie „Black Earth Rising“.
Zweieinhalb Jahre für die Fertigstellung
Der Vergleich zwischen Coel und ihrer Figur Arabella drängt sich also auf. Zwei junge, erfolgreiche, selbstbewusste Frauen, denen auf der vorläufigen Höhe ihres Ruhms unvorstellbares Leid widerfährt. Coels persönliches Trauma bildet die Grundlage der Serie, aber damit enden die Parallelen nicht. Auch von ihren Erfahrungen als Tochter ghanaischer Einwanderer:innen, die in einem Londoner Arbeiter:innenviertel aufwuchs und als Kreativschaffende, die darum kämpfte, mit der Kunst ihren Lebensunterhalt zu verdienen, lebt die Serie. Trotzdem betont die Schauspielerin in Interviews immer wieder, dass es sich bei „I May Destroy You“ um eine Fiktion handelt, gespickt mit realen Erlebnissen.
Zweieinhalb Jahre ließ sich Coel für die Fertigstellung Zeit. Sie nahm keine anderen Projekte an und schrieb nach eigenen Aussagen um die 200 Versionen des Skriptes, bis endlich alles stimmte. Ein quälender Prozess. Schließlich musste sie ihr Trauma immer wieder durchspielen, wie sie in einem Interview mit Vulture verriet. Warum entschied sie sich dazu, dieses persönliche Erlebnis und das damit verbundene Trauma mit der Welt zu teilen? Es sei für sie therapeutisch gewesen, die schmerzhafte Erfahrung in eine hoffnungsvolle, in Teilen sogar humoristische Erzählung umzuwandeln, erklärte die Autorin in ihrer Rede beim Edinburgh TV Festival. Die Kreation von „I May Destroy You“ war für Coel kathartisch, denn sie musste für ihre Figur einen Ausweg aus dem Trauma suchen, und damit auch für sich selbst.
Heilungsprozesse verlaufen selten linear
„I May Destroy You“ illustriert, wie schwierig der Weg zurück in die Normalität sein kann für Menschen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben. Zwei Schritte vorwärts, drei Schritte zurück – Heilungsprozesse verlaufen selten linear. Mit „I May Destroy You“ habe sie Menschen mit ähnlichen Erfahrungen Sichtbarkeit und Halt schenken wollen. Gleichzeitig habe sie eine Serie drehen wollen, die die Bedeutung des Konsens beim Sex und die unterschiedlichen Auffassungen untersucht, sagte die Autorin der Radio Times.
Was bedeutet einvernehmlicher Sex wirklich? Kann ich die Stimmung meines Gegenübers lesen oder sollte ich lieber immer nachfragen? Das Einverständnis beim Sex ist oft nur eine Vermutung, eine unbeantwortete Frage, bei der das Gegenüber nicht immer daran interessiert ist, eine Antwort zu erhalten. „I May Destroy You“ legt diese Fragen offen, aber die Serie beantwortet sie ganz bewusst nicht. Anhand von Arabellas Erfahrungen und denen ihrer besten Freund:innen, Kwame (Paapa Essiedu) und Terry (Weruche Opia), erforscht Coel das Datingverhalten von Millennials.
Tinder, Grindr und Hook-up-Kultur
Es wird über Tinder gesprochen und über Grindr, über zwanglose Verabredungen zum Sex und die sogenannte Hookup-Kultur, in schwarz und weiß, aber auch in all ihren unterschiedlichen Grautönen. Dabei fokussiert sich die Produzentin auch auf die Täuschung des Gegenübers beim Sex, auf ein Einverständnis, das unter Vortäuschung falscher Tatsachen erstohlen wird, wenn der:die Partner:in während des Geschlechtsverkehrs beispielsweise das Kondom abzieht. So, wie es Arabella beim ersten Sex nach ihrer sexualiserten Gewalterfahrung passiert. Dieses sogenannte stealthing wird in Großbritannien als Vergewaltigung gewertet, wie Arabella beim Hören des Podcasts „The Receipt“ erfährt.
In diesem Podcast unterhalten sich drei Schwarze Frauen aus dem realen Leben über ihre Beziehungen und Dating. Ein kleines Detail, das die Zuschauer:innen daran erinnert, dass es sich bei „I May Destroy You“ um ein Zeugnis Schwarzer britischer Lebensrealitäten handelt, und es ist nicht das einzige. Ähnlich verhält es sich, wenn Terry bei einem Filmcasting von weißen Menschen gefragt wird, ob sie ihre Perücke denn auch mal waschen würde. Afrohaar als Politikum – für viele Schwarze Menschen in mehrheitlich weißen Gesellschaften ist das Normalität. Diese auch in Serien widergespiegelt zu sehen ist jedoch neu. Schließlich ist die Darstellung Schwarzer Frauen in der europäischen Fernsehwelt nach wie vor von rassistischen Stereotypen geprägt.
Eindimensionalität noch weit verbreitet
Das bekam auch Michaela Coel in ihrer Karriere zu spüren. Im „Honest Actors Podcast“ sagte sie, dass sie regelmäßig für die Rolle der „frechen, angriffslustigen und wütenden“ Schwarzen Frau angefragt würde. Begriffe, die genutzt werden, um Schwarze Frauen zu beschreiben. Das Bild der frechen Schwarzen Freundin, die regelmäßig mit den Fingern schnippt, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, und die nur existiert, um ihrer meist weißen Freundin mit Rat und Tat beiseite zustehen, ist weit verbreitet in der westlichen Film- und Fernsehwelt.
Hartnäckig hält sich dieses Narrativ und zwingt Schwarze Frauen in der Eindimensionalität. Michaela Coel hat eine Lösung für das Problem: Sie schreibt sich die Rollen, die sie spielen möchte einfach selbst. „Fuck it!“ So war es damals bei „Chewing Gum“ und so ist es heute mit „I May Destroy You“. Michaela Coel hat sich Frieden für ihr eigenes Leben geschenkt. In „Vulture“ erklärte sie: „Ich verstand, dass das Trauma mich nicht definieren musste. Ich konnte es loslassen und ich war immer noch hier.“ Doch die Geschichte ist nicht nur ein Geschenk für sie selbst. Es ist ihr gelungen, Schwarze Frauen zu zeigen, die sie selbst sein dürfen, vielfältig und menschlich. In „I May Destroy You“ spielen die Schwarzen Schauspieler:innen keine Nebenrollen mehr, sie bestimmen das Geschehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Jahresrückblick Erderhitzung
Das Klima-Jahr in zehn Punkten
Anschlag von Magdeburg
Aus günstigem Anlass