Senior:innen mit Kündigung gedroht: Zensur in Kreuzberg?
Mieter:innen des Möckernkiezes solidarisierten sich mit dem Enteignungs-Volksbegehren. Die Genossenschaft drohte ihnen mit fristloser Kündigung.
BERLIN taz | „Lebendig altern“ wollen die Bewohner:innen des gleichnamigen Wohnprojekts in der Kreuzberger Genossenschaftssiedlung Möckernkiez. Und dies bedeutet für die 62- bis 74-Jährigen eben auch, politisch aktiv zu bleiben. Gemeinsam mit drei benachbarten Familien hingen die Senior:innen deshalb Transparente von ihren Balkonen, auf denen sie sich mit dem Volksbegehren Deutsche Wohnen & Co enteignen solidarisierten.
Den Vorstand der Genossenschaft begeisterte dies aber nicht – er mahnte die Bewohner:innen der Wohnungen kurzerhand unter Androhung einer fristlosen Kündigung ab. Iris Veit von der „Alten-WG“, wie sie das Wohnprojekt nennt, bezeichnete dies gegenüber der taz als „politische Zensur“.
Die Genossenschaft sei vor mehr als 10 Jahren unter dem Motto „Anonyme Investoren oder wir!“ gegründet worden. Nun Bewohnenden fristlos zu kündigen, weil sie sich mit von Verdrängung bedrohten Mieter:innen solidarisieren, entspräche nicht den Gründungswerten der Genossenschaft, so Veit.
Das Abmahnungsschreiben, welches der taz vorliegt, ist vom Vorstandsmitglied Frank Nietzsche verfasst worden. Dieser erklärte schon 2019 öffentlich in Bezug auf den Mietendeckel, dass er diesen für “Unsinn, populistisch und langfristig schädlich“ halte. Zudem bedrohe er die Solvenz des Möckernkiezes. Nun verkündet er, die Banner würden eine „Gefährdung des Friedens in dem Haus“ darstellen.
Durch sie könne der Eindruck entstehen, dass es sich bei den zur Schau gestellten Auffassungen um die der gesamten Genossenschaft handle. Zudem würden die Bewohner:innen gegen diverse Hausordnungspunkte verstoßen. Sollten die Mieter:innen die Banner nicht abnehmen, droht Nietzsche, sich auch mit „gerichtlicher Hilfe“, „einstweiligen Rechtsschutz“ und fristlosen Kündigungen durchzusetzen.
Politische Kultur bedroht
Dies wollen die betroffenen Wohngemeinschaften nicht einfach hinnehmen. Sie riefen deshalb zu einer Kundgebung am Montagmittag auf, zu der etwa 100 Menschen erschienen: Viele Bewohner:innen des Möckernkiezes selbst, aber auch Aktivist:innen des Volksbegehrens.
Veit sagt, es gehe ihr um die „Verteidigung der politischen Kultur“: „Friedliches Zusammenleben entsteht nicht, wenn man den Mund hält.“ Zudem sei in der Genossenschaft 2020 ein Antrag einstimmig angenommen worden, nach welchem „politische Bekundungen an Balkonen und Fassaden unter das Recht der freien Meinungsäußerung“ fielen. Wenn andere mit bestimmten Meinungen nicht einverstanden seien, könnten sie ihren Unmut äußern, damit über Probleme geredet werden könne.
Die Bewohner:innen bezweifeln, dass eine fristlose Kündigung vor Gericht Bestand hätte. Da es sich beim Vermieter nicht um die Deutsche Wohnen selbst handle, sei der Vorwurf einer schweren Störung des Hausfriedens nicht haltbar, so Veit. Nichtsdestotrotz müsse man die Banner vorläufig abhängen, da eine mögliche fristlose Kündigung dennoch zunächst rechtskräftig wäre.
Um Punkt 12 Uhr – der vom Vorstand gesetzten Deadline – werden die Banner deshalb unter Pfiffen und Buhrufen der Kundgebungsteilnehmer:innen eingerollt. Sie werden von einem Hausprojekt in der Kreuzberger Oranienstraße in Empfang genommen. Einen Schriftzug wollen die Senior:innen allerdings für sich behalten, um abends damit durch den Kiez zu flanieren. Aufzugeben sei keine Option. Auf die Frage, wie man es mit der Enteignung halte, antwortet die Kundgebung deshalb kraftvoll: „Jetzt erst recht!“
Leser*innenkommentare
Ataraxia
Nordkorea in Kreuzberg. Nicht ist so, wie es scheint.
Für die Berliner Wohnungsmisere sind gerade einige große, zentralistisch geführte Wohngenossenschaften mit zuständig, die durch hohe Mieten auffallen, die sich von denen der Deutschen Wohnen in Nichts unterscheiden. Manchmal sind Altmieten bei der DW, dank Mietendeckel, dem Rechtsschutz von Mietervereinen etc. sogar niedriger. Ein anderer Faktor für hohe Mieten sind die hohen Grundstückpreise, die in einem totalitären Finanzkapitalismus wie den deutschen natürlich von keiner der regierenden Parteien je eingedämmt wurden (übrigens das letzte Projekt von Jochen Vogel, SPD, der die tausendprozentigen Steigerungen auch nicht goutierte). Gut, gestiegene Baukosten spielen ne Rolle, aber vor allem die Tatsache, dass unabhängige Wohnungsgenossenschaften keine staatliche Unterstützung erhalten haben, von den dämlichen Banken ganz zu schweigen (GLS-Bank ausgenommen), obwohl sie risikolose mit Baukrediten auch beim Möckernkiez (500+ Wohnungen) vergeben konnten.
Das ist neoliberaler Kapitalismus im letzten Stadium, reines Spielfeld für Abzocker, Spekulanten und korrupte CDU-Abgeordnete.
Gegen dieses Virus ist Corona harmlos und temporär. Wie schon Brecht sagte, es gibt viele Arten, jemanden zu töten.
17900 (Profil gelöscht)
Gast
Das ist der Hammer!
Vielleicht sollte man den Vorstand dieser Genossenschaft feuern?
Ataraxia
@17900 (Profil gelöscht) Der besagte Vorstand scheint sich allerdings dafür eingesetzt zu haben, das Projekt überhaupt über die Runden zu bringen, besser informierte Kreise mögen das kommentieren:
www.tagesspiegel.d...ssen/12427086.html
Thomas Brunst
Was man eher gewinnorientierten Unternehmen zutraut wird in Berlin - ganz offen - von einer (Wohn)Genossenschaft praktiziert: Der Einschränkungsversuch demokratischer Freiheitsrechte (z. B. Meinungsfreiheit) der Bürgerinnen und Bürger, weil die politische Einstellung/ Ausrichtung dieser Genossenschaft nicht passt.
Auch hier gilt: Freiheitsrechte müssen (täglich) gelebt werden, weil sie sonst verkümmern und nicht das Papier wert sind auf dem sie geschrieben stehen.