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Seltene Schafe in ÖsterreichBei den Antifaschäfchen

Im Westen Österreichs lebten früher die Montafoner Steinschafe – bis die Nazis sie fast ausrotteten. Heute sind sie das Maskottchen der Region.

Steinschafe gelten als widerstandsfähig und sanftmütig. Doch Hitler bevorzugte das größere, dickere und reinweiße Tiroler Schaf Foto: Patrick Säly

Aus dem Montafon taz | Plötzlich habe ich diesen Heidi-Moment auf der vom Regen glitzernden Wiese vor den dunstverhangenen blauen Bergen. Martin Mathies hat die Hände um den Mund gelegt und lässt ein langgezogenes „Ko, bidi-bidi, ko, bidi-bidi“ ertönen. Drüben am Waldrand bewegen sich erst die Ohren, dann zucken Köpfe hoch. Eine Herde Schafe. Sie wollen wissen, was los ist. „Ko, bidi-bidi“ ist Muntafu, der hiesige Dialekt, „bidi“ kommt von „bigr“ – Schaf. Ein Lockruf also, und er wirkt.

Beim nächsten „Ko“ drängelt sich die ganze Herde um Mathies und mich. Eins zwängt die Nase in meine Anoraktasche, ein Maul knabbert an der Kordel, ein Kopf stupst die Hand mit dem Schreibblock. Wo zuerst hingucken, wen zuerst streicheln? Das kleine Weiße, den Gefleckten? Das mit den Hörnern?

„Die sind jetzt schon eine Weile hier unten im Tal“, sagt Mathies und unterbricht den Heimatfilm in meinem Kopf. Ihm gehört die Herde, er ist Schafzüchter, Biobauer. Im Nebenerwerb, wie heute üblich. Wenn es nötig wird, springt die ganze Familie ein. Fast wie früher und doch ganz anders. Mathies sieht auch überhaupt nicht aus wie der alte Alm-Öhi in dem Schweizer Kinderbuchklassiker. Mittelgroß, schlank, kurze braune Haare, Viertagebart, blau-graue Trainingsjacke, Cargo-Jeans. Seine Existenz sichert er als Lehrer an der Landwirtschaftsschule, um die Ferienwohnungen auf dem Hof kümmert sich der Vater, auch eine Tischlerei gibt es. Aber die Tiere sind so etwas wie Mathies’ Lebensprojekt.

Ich bin hier, weil ich herausfinden will, was es mit dem Montafoner Steinschaf auf sich hat, welche Rolle Adolf Hitler bei dessen Verschwinden spielte, warum die ganze Region das dünne, wollige Geschöpf nun zum Maskottchen gemacht, oder eher: zum Teil seiner Identität erklärt hat. Das Montafon ist das westlichste Tal Österreichs, an der Grenze zur Schweiz, eingerahmt von den Gebirgsstöcken Verwall, Sil­vretta und Rätikon. Und es will Modellregion für nachhaltigen Tourismus werden.

„Ko, bidi-bidi“ – und schon sind sie da Foto: Jürgen Kiontke

Bis vor kurzem fast ausgestorben

Arthur heißt das jüngste von Mathies’ Tieren, das einzige ohne Knopf im Ohr. Den gelben Zettel, der anzeigen würde, zu wessen Herde das Lamm gehört, gibt es erst nach einem Gentest – und dann auch nur, wenn Arthur ein hundertprozentiges Montafoner Steinschaf ist. Denn die Herde ist Teil eines Zuchtprogramms. Die alte Rasse galt bis vor Kurzem als nahezu ausgestorben – wobei es besser ausgerottet heißen müsste. Denn sie verschwand nicht von selbst, sondern wurde seit den 1930er-Jahren systematisch verdrängt.

Dazu muss man wissen, dass die Agrarwirtschaft ein zen­traler Sektor im Nationalsozialismus war, sie sollte das Reich unabhängig von Importen machen. Die zähen Bergbauern konnten da wegen der kargen Gegebenheiten zwar ertragsmäßig nicht mithalten, aber sie galten als 1a-Repräsentanten der Blut-und-Boden-Ideologie, eben weil sie den heroischen Kampf mit der widerspenstigen Natur aufnahmen. Deshalb wurden sie besonders unterstützt, mussten aber Reformen mitmachen: Förderprogramme und Pflichtgenossenschaften sollten ihren ökonomischen Status verbessern. Diese nahmen ihnen aber auch die Eigenständigkeit, die Vorgaben kamen nun aus Berlin.

Eine Ausstellung im Heimatmuseum in Schruns zeigt, was dieses „Leben unterm Hitler“ auch bedeutete: Selbst die Schafe mussten „vorzeigbar sein“, so wie der Faschist sich das wünschte: weiß, wohlgeformt, mit viel Fleisch und gleichmäßiger weißer Wolle. Das ziemliche Gegenteil der Montafoner Rasse also. „Schaut’s“, sagt Mathies. „Die waren dem viel zu bunt.“ Und tatsächlich: Klein und schlank mit harten Klauen sind seine Tiere alle, praktischerweise auch sanftmütig und standorttreu. Aber die Farben gehen sehr auseinander: Es gibt weiße, wollweiße mit dunklen Brillen, schwarze, braune, rehfarbige mit hellem Bauch, rötliche, manche haben Hörner, manche Mähnen aus Grannenhaar auf den Brustlatzen.

Mathies greift in Arthurs Fell und reibt es zwischen den Fingern: „Die Wolle ist auch nicht besonders weich.“ Die glänzende Mischung aus feinem Unter- und grobem Grannenhaar schützt die Schafe vor Regen und Kälte – und kann gut gesponnen, gewoben, gefilzt, gewalkt oder verstrickt werden. Die vielfältigen Varianten machen die Rasse anpassungs- und widerstandsfähig. Aus heutiger Sicht schwer nachzuvollziehen, warum sie damals trotzdem gegen das deutlich größere und dickere reinweiße Tiroler Schaf ausgetauscht wurde.

Die Rückbesinnung kam spät, Ende der 1980er-Jahre. Nur in Gaschurn, der hintersten Ecke des Montafons, hatten sich noch einzelne Schaffamilien gehalten. Dabei muss auch woanders schnell klar geworden sein, dass die eingeführten schweren Rassen gar nicht mit der dreistufigen alpinen Landwirtschaft klarkamen.

wochentaz

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Wie die aussieht, lässt sich am anschaulichsten auf dem „Themenweg Montafoner Steinschaf“ erwandern und nachlesen, dessen knapp zehn Kilometer und 492 Höhenmeter sich gemütlich in dreieinhalb Stunden zurücklegen lassen. Die Tiere verbringen den Winter unten im Tal, nur wenn Schnee liegt, sind sie direkt auf dem Hof oder im Stall, im Frühjahr und Herbst leben sie auf dem sogenannten Maisäss auf halber Höhe zu den ganz steilen Hängen der Almen, wo sie sich im Sommer rumtreiben dürfen.

Dieser Kreislauf erhält die Kulturlandschaft, weil die Schafe junge Buschsprossen fressen und die bekannten grünen Kuppen auf diese Weise freihalten. Außerdem treten sie den Boden fest und verringern so die Gefahr von Erdrutschen.

Seit 1988 soll ein Zuchtprogramm die Rasse deshalb wieder aufpäppeln. Mit Hilfe der Stiftung Pro Specie Rara aus der Schweiz legte der letzte verbliebene Halter der Schafe ein privates Zuchtbuch an. Arche Austria, ein österreichischer Verein zur Erhaltung alter Nutztierrassen, half, die Rassestandards zu formulieren. 2001 richtete der Vorarlberger Schafzuchtverband dann das offizielle Herdebuch ein. Seit 2008 gehört auch Mathies mit zu den treibenden Kräften. „Es braucht immer noch eine Menge Überzeugungsarbeit bei vielen Landwirten“, sagt er.

Aushängeschild Antifa

süß! Foto: biohof mathies

Gern gesehen wird die Wiederentdeckung des besonderen Schafs dagegen von den Gemeinden, die mit Bürgerräten und Vertretern der Wirtschaft einen Markenprozess gestartet haben. Denn ein kuscheliges Antifaschaf taugt als Aushängeschild. Die aktuelle Vision vom Montafon stellt neben der „einzigartigen Landschaft“ und der „Kooperation von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft“ ein gleichberechtigtes Miteinander von Talbewohnern, Gästen und Unternehmen in den Mittelpunkt. Auswüchse wie im benachbarten Ischgl, wo auf 1.700 Einheimische 390 Hotels kommen und die Bergwelt wie eine Kirmesveranstaltung anmutet, will man vermeiden.

Erzeuger und Händler gründeten den Verein „bewusst-erleben“, der Nachhaltigkeit als Ziel definierte und inzwischen „bewusstmontafon“ heißt – wie auch das Logo, das die regionalen Produkte kennzeichnet. Er veranstaltet den Buratag, das Bäuerinnenbuffet, erfand die Genusskiste und eine Genusslandkarte, Regionallädli entstanden. Und natürlich findet das alles auch auf Social Media statt.

Der Plan scheint aufzugehen. Urlaubende finden im Montafon immer noch sehr viele Ferienwohnungen von privat, viele davon auf Bauernhöfen wie dem von Mathies. Und auch die reinen Tourismusbetriebe sind meist von überschaubarer Größe – wenn auch oft besonders. „Wir fühlen uns dem Leitbild des Tals verpflichtet“, sagt beispielsweise Stefan Carstens. Er ist Geschäftsführer der Amrai Suites, eines Hotels mit besonderer Architektur in der Ortsmitte von Schruns. Namensgeberin ist eine fiktive junge Frau, die durch den traditionellen Namen tief im Tal verwurzelt ist, aber selbstbewusst und stilsicher in der Jetztzeit lebt. Vielleicht eine moderne Heidi.

Wie andere größere Hotels hier nutzt das Amrai die natürlichen Ressourcen des Tals: lokale Hölzer, Kupfer und Steine aus der Bergbautradition. Neben Böden und Möbeln aus Eschen- und Lärchenholz finden sich überall Produkte vom Montafoner Steinschaf: gefilzte Fußmatten, Wollteppiche, Glasuntersetzer, Sitzauflagen. An den Flurwänden hängen statt Hirschgeweihen jede Menge lustige Gipsköpfe von Schafen mit und ohne Hörner.

„Liebe zur Heimat ohne Alpenkitsch“, nennt Carstens das Konzept. Er stammt selbst aus Baden-Württemberg, hat einige Jahre in den USA gearbeitet. Er fand es spannend, als Nichteinheimischer einen „Leitbetrieb“ für die regionale Weiterentwicklung zu übernehmen, sagt er. Und dann das Hotel mit dem „zu verzahnen, was da ist“, es also im Ort zu verankern, bevorzugt Menschen aus dem Tal zu beschäftigen, Restaurants und Spas offen zu halten, Montafoner Produkte anzubieten. Die meisten Gäste kommen aus Vorarlberg oder vom Bodensee und überhaupt aus Süddeutschland.

Gut auch für Biobauer Mathies. Denn der Verkauf der Wollprodukte – und des Fleischs – an Betriebe mit hoher Gästefrequenz hilft, das Montafoner Steinschaf bekannter zu machen und das Zuchtprogramm weiter abzusichern. Rund 400 Exemplare gibt es inzwischen wieder in der Region, zwischen den Weltkriegen waren es einmal um die 4.000. 41 gehören zu Mathies Herde.

Die größte Herausforderung ist aktuell vor allem der Wolf. Etliche Rudel leben inzwischen in den Bergen, auf den Almen sind die Schafe deshalb kaum zu schützen. „Und ein Wolf hört ja nicht auf, wenn er ein Tier getötet hat“, sagt Mathies. „Es geht dann nicht mehr ums Fressen, die geraten in eine Art Blutrausch.“ Verletzte Tiere blieben einfach liegen. Herdenhunde, die gegen die Angriffe helfen würden, verböten sich wegen ihrer Aggressivität in den Wandergebieten aber von selbst.

Eine Lösung hat er bislang nicht gefunden, letzten Sommer sind die Schafe nur bis zum Maisäss gekommen, wo sie bewacht werden können. Und Ende September waren sie bereits wieder im Tal. „Für die Landschaft hier unten ist das gut“, so der Züchter. „Denn auch hier verbuschen die Flächen, wenn sie nicht gepflegt werden.“ Um die gesamte Kulturlandschaft aufrechtzuerhalten, gebe es aber einfach noch zu wenig Tiere. Eine große Aufgabe also für das ganze Tal.

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