Selenski in London: Emotionen in Olivgrün
Der ukrainische Präsident besucht Großbritannien. Im Parlament fordert er Kampfjets und „eine Welt, die in dunklen Stunden prinzipienfest bleibt“.
Mit einem emotionalen Auftritt in London hat der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski am Mittwoch eine Westeuropa-Reise eingeläutet, die ihn auch nach Paris und Brüssel führen soll. Selenski traf am Mittwochvormittag zum Auftakt seiner zweiten Auslandsreise seit Kriegsbeginn vor einem Jahr – die erste hatte ihn im Dezember in die USA geführt – auf dem Londoner Flughafen Stansted ein und besuchte den Amtssitz des Premierministers in 10 Downing Street, bevor er im Parlament eine Rede hielt, von König Charles III empfangen wurde und dann noch britische Militärausbilder und ukrainische Soldaten treffen sollte.
Premierminister Rishi Sunak empfing seinen Gast persönlich am Flughafen und saß mit ihm im Auto nach London. Das war nicht minder ungewöhnlich wie die Anwesenheit uniformierter ukrainischer Leibwächter am Amtssitz des Premiers und der Applaus, der Selenski von innen entgegenbrandete, als er gemeinsam mit Sunak durch die berühmte schwarze Tür von 10 Downing Street trat. Sunak musste dann zur wöchentlichen Fragestunde im Unterhaus, die anders als sonst gar nicht konfrontativ verlief: Labour-Oppositionschef Keir Starmer bat immer nur um Bestätigung der Unterstützung der Ukraine, es herrschte überparteiliche Geschlossenheit wie sonst nur in Kriegszeiten.
Dass dies Kriegszeiten sind, das machte Selenski selbst deutlich, als er schließlich in Olivgrün vor rund 700 Abgeordneten aus Unter- und Oberhaus trat, stehend dicht gedrängt in der ehrwürdigen Westminster Hall, wo im September 2022 die Queen aufgebahrt war. In der zum Bersten gefüllten Halle rief Selenski mit rauher Stimme auf Englisch: „Ich stehe vor Ihnen in Vertretung der Mutigen, in Vertretung unserer Krieger in den Schützengräben unter feindlichem Artilleriebeschuss.“ Er erinnerte daran, wie er einmal auf Winston Churchills altem Amtssessel Platz nehmen durfte, und heute kenne er dieses Gefühl: „Wie Mut dich durch die unvorstellbarsten Härten führt und dich mit dem Sieg belohnt“.
Großbritannien habe „von der ersten Sekunde an“ an der Seite der Ukraine gestanden, bedankte er sich und reservierte sein größtes Lob für Expremier Boris Johnson, der im Publikum stand wie alle anderen und den er am herzlichsten begrüßte von allen: „Boris, du hast andere zusammengebracht, als es absolut unmöglich schien. Danke.“
Die Unterstützung soll über das Militärische hinausgehen
Konkret stand im Mittelpunkt die ukrainische Forderung nach Nato-Kampfjets, um die Nato-Kampfpanzer schützen zu können, wenn sie denn einmal an der Front in der Ukraine eingetroffen sind. Selenski überreichte Parlamentspräsident Lindsay Hoyle einen ukrainischen Pilotenhelm und erklärte in Anspielung auf seinen nächsten Termin im Buckingham Palace: „In Großbritannien ist der König ein Luftwaffenpilot. In der Ukraine ist jeder Luftwaffenpilot ein König.“
Doch es ging Selenski auch um mehr. Im Zweiten Weltkrieg, erinnerte er, habe man gemeinsam mit den Briten „das Böse“ besiegt. Aber das Böse sei neu erstanden, und nun müsse man es erneut bekämpfen. „Wir wissen, dass die Freiheit siegen wird. Wir wissen, dass Russland verlieren wird. Wir wissen genau, dass dieser Sieg die Welt verändern wird. Das Vereinigte Königreich marschiert mit uns zum wichtigsten Sieg unseres Lebens: den Sieg über die Idee des Krieges an sich.“
Eine „neue Welt“ sei im Entstehen, „die weiß, wie man schnell hilft, wie man sich effektiv wehrt, die in dunklen Stunden prinzipienfest bleibt, die ehrlich verhandelt, den Tätern keine Immunität gewährt, die Vetos überwinden kann; die keine Furcht kennt und die weiß, wie man siegt“. Es geht darum, „dass die lichte Seite der menschlichen Natur die Oberhand behält“.
Premierminister Sunak erklärte schriftlich, die britische Unterstützung der Ukraine gehe über das Militärische hinaus. Man unterstütze Selenskis Pläne für einen „gerechten und nachhaltigen Frieden“. Es gebe aber auch einen Ausbau der Militärhilfe, insbesondere Ausbildung auch für die Luftwaffe und die Marine. Das klingt nach einem Ertüchtigungsprogramm für den Fall, dass tatsächlich Nato-Kampfjets an die Ukraine gehen.
Scholz reist für Selenski nach Paris
Sunak kündigte auch eine „sofortige Aufstockung“ der Waffenhilfe für die Ukraine an, um der erwarteten russischen Frühjahrsoffensive entgegenzutreten. Details wurden nicht genannt, die britische Erklärung verwendet für diese Aufstockung aber das Wort „surge“, das von US-Großoffensiven in Irak oder Afghanistan in Erinnerung geblieben ist.
Nach ukrainischen Berichten starben m Dienstag so viele russische Soldaten an der Front wie noch nie, nämlich 1030. Der Krieg wird offensichtlich heftiger, aber es besteht auch eine gewisse ukrainische Zuversicht. Damit dürfte Selenski auch am Mittwochabend in Paris auf Emmanuel Macron und Olaf Scholz treffen und beim EU-Gipfel in Brüssel am Donnerstag auftreten. Dass Scholz zum Dinner mit Selenski nach Paris reisen muss, bedeutet wohl, dass Berlin nicht auf der Reiseroute steht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
FDP stellt Wahlkampf Kampagne vor
Lindner ist das Gesicht des fulminanten Scheiterns
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Wahlkampf-Kampagne der FDP
Liberale sind nicht zu bremsen
Greenpeace-Vorschlag
Milliardärssteuer für den Klimaschutz
Katja Wolf über die Brombeer-Koalition
„Ich musste mich nicht gegen Sahra Wagenknecht durchsetzen“
Paragraf 218 im Rechtsausschuss
CDU gegen Selbstbestimmung von Frauen