Selbstversuch im Online-Spiel Twinkomplex: Martin, ich und Agent Frieder
Eine verschwundene Frau, Sadomaso-Sex und ein dubioser Spiele-Entwickler: Eine Spurensuche im Online-Spiel Twinkomplex – und in Berlin-Tempelhof.
Eine Frau ist verschwunden. Sie steckt in Schwierigkeiten, so viel ist klar. Irgendwo in den Weiten Berlins wird sie festgehalten. Sie könnte überall sein – die Suche nach der Nadel im Heuhaufen reloaded. Wir machen uns auf den Weg. Wir – das sind meine drei Kollegen und ich. Unser Auftraggeber: die Geheimorganisation DIA. Ein verrissener Notizblock, ein Zettel mit einer E-Mail-Adresse und ein Hilferuf über Skype. Mehr haben wir nicht. Zum Glück unterstützt uns der Chef Anton Caspers mit Anweisungen.
Aber ganz koscher ist der doch auch nicht. Egal, die Suche beginnt. DNA-Tests, Fingerabdrücke, Schriftanalyse und das Skype-Video sollen die im Labor unter die Lupe nehmen. Das volle Programm. Und sie sollen sich beeilen. Es kommt auf jede Minute an. Agent ElCapone und Agent Frieder scheinen das anders zu sehen. Entweder jemand hat den Stecker gezogen oder sie sind neues "Club-Mate" aus dem Keller holen. Mir ist das zu blöd. Ich verabschiede mich von Agent Carlos, ziehe die Kopfhörer aus und greife zum Telefon.
Am nächsten Morgen stehe ich auf dem Gelände des Flughafens Tempelhof. Gebäudeteil D2. Ein Mann um die 50 öffnet mir die Tür. Wir haben einen Interviewtermin. Der Mann heißt Dr. Martin Burckhardt und ist Geschäftsführer und gleichzeitig Spieleentwickler des Start-ups Ludic Philosophy, das das Social Game Twinkomplex herausbrachte. Social Games sind Online-Spiele mit sozialer Interaktion. In Twinkomplex besteht diese Interaktion darin, dass man mit drei weiteren Online-Spielern in Berlin Missionen für einen Geheimdienst erfüllt. Indem man beispielsweise im Labor Beweisstücke analysiert oder auch verdächtige Adressen aufsucht.
Videosequenzen werden regelmäßig in den Handlungsverlauf eingestreut, damit die Story lebendig bleibt. Gespielt werden die Sequenzen von Schauspielern wie Bernhard Schütz, Dieter Bach, Robert Neumann sowie Irm Hermann. Die Schauspieler filmen sich selbst, was laut Martin Burckhardt eine "Intimität zulässt, die durch ein großes Filmteam nicht zu erreichen ist". Zum Beweis zeigt er mir und meinem Begleiter Michael eine Videosequenz, in der sich zwei Darsteller nach dem Sadomaso-Sex unterhalten und dabei filmen. Das Gespräch wirkt authentisch, ohne Frage. Eine nette Neuerung, die den Gamer noch ein Stück näher ans Geschehen bringt.
Verdorbener Spielspaß
Dieser Text ist entstanden in der taz.akademie im Rahmen des 1. taz Panter Workshops Online "Internet Hauptstadt Berlin" für angehende Journalisten.
Ich spreche Martin Burckhardt auf mein gestriges Problem an. Wie kann ich verhindern, dass mir unfähige Mitspieler den Spielspaß nehmen? Dafür hat der Entwickler derzeit noch keine Lösung. Geduld sei natürlich wichtig. Das ist der wunde Punkt von Twinkomplex. Wenn ich ein Spiel anfange, möchte ich von Beginn an meinen Spaß haben und ihn mir nicht erst stundenlang "ersitzen".
Für das Spiel hat Ludic Philosophy nach eigenen Angaben 500.000 Euro investiert. In Anbetracht dessen stellt sich natürlich die Frage, wie man dieses Geld mit einem kostenlosen Online-Spiel wieder reinholt: Die Spieler haben in Twinkomplex die Möglichkeit, mit echtem Geld Spielgeld zu kaufen, durch das man wiederum an Lebensenergie kommt. Es ist zwar auch ohne möglich, aber es erleichtert das Spiel ungemein und wird eher von den circa 1.000 Stammspielern genutzt als von Gelegenheitsspielern wie mir.
Das zweite Standbein, das laut Martin Burckhardt nun ausgebaut werden soll, ist eine Art Product-Placement. Erst gibt der Gamer einen beliebigen Begriff in eine Datenbank ein, die ins Spiel integriert ist. Danach erscheint ein dem Begriff nahestehender Link eines Unternehmens. Das Unternehmen zahlt entsprechend den Klicks.
Bis Ende des Jahres erwarte Ludic Philosophy 100.000 Gamer, was Martin Burckhardt auf Investitionen von Unternehmern hoffen lässt. Und natürlich darauf, noch mehr virtuelle Geldbündel an die Gamer zu bringen.
Dauerspielen als sinnvolle Zeitnutzung
Was mich wundert: Auf seiner Homepage ruft Martin Burckhardt zu einer sinnvollen Zeitnutzung auf. Zählt der tagelange Aufenthalt in der virtuellen Welt dazu? "Selbstverständlich", sagt er. Es gebe einen Stammspieler, der seit 55 Tagen täglich als Agent tätig ist und dabei "spannende Abenteuer erlebt". Das Spiel sei weniger ein "social game" als ein "social social game". Schon klar. "Die Grenzen von Fiktion und Realität verschwimmen für den Spieler", sagt er.
"So ein Blödsinn", denke ich mir, als ich auf dem Rückweg in die U-Bahn steige. Während der Fahrt beschleicht mich ein Verdacht. Dieser Dr. Burckhardt hat etwas mit der Sache zu tun. Zum Glück habe ich Fingerabdrücke von seiner Tastatur genommen. Vielleicht stimmen die mit den Abdrücken vom Notizzettel überein. Ich darf keine Zeit verlieren. Ab ins Labor damit.
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