■ Sein Jahrhundert: Grass tanzt
„Überhaupt wird in Berlin nur noch getanzt“, erklärte Onkel Max der Mutter Grass, als sie 1927 mit Günter schwanger ging. Und wie gerne wäre sie nach Berlin gekommen, um einmal im Leben den Tanz der Tiller-Girls zu sehen. „Doch bis Berlin hat sie es nie geschafft“, heißt es in der Erzählung, die Günter Grass über sein Geburtsjahr geschrieben hat. Der Tanz aber ist von nun an eines der Leitmotive, von denen sich Grass durch „sein Jahrhundert“ leiten läßt: Der Tanz ist das Glück, im Tanz gelingt es dem Schriftsteller, den Forderungen des Tages zu entkommen. Nirgends ist das so schön beschrieben wie in der Erzählung, die Grass zu seinem Erfolgsjahr 1959 geschrieben hat, als „Die Blechtrommel“ in die Welt kam: „Tanzsüchtig und losgelassen“ waren der Schriftsteller und seine Frau, sie „tanzten ohne Bodenhaftung“.
Über die Love Parade schreibt Günter Grass nicht als Tänzer, sondern als um Verständnis bemühter alter Mann. Ein wenig Neid ist dabei, auf die Leichtigkeit der Tänzer, aber auch Mißbilligung, wenn er überall Peace-Parolen hört, während von den Kriegen keine Rede ist. Es ist die gütige Mißbilligung desjenigen, der es nicht lassen kann, noch während die Jugend im Glückstaumel tanzt, an die Müllberge danach zu denken. Die Konsequenz ist aber kein störrisches „Räumt das auf!“, sondern ein resignierend lächelndes „Laßt gut sein, Kinder. Ich räum' es schon weg.“
Das Wunderbare an Grass' „Mein Jahrhundert“, dem Buch, das jedes Jahr mit einer Geschichte bedenkt, ist die Stimme des Erzählers, der Günter-Grass-Sound. Nur wenige Erzählungen sind autobiographisch, alle sind in der Ich-Form geschrieben, aus der Position der Menschen, die Geschichte erleiden. Grass bemüht sich, seine Stimme zu verstellen, aber es gelingt ihm kaum: Wenn er versucht, sich in einen Nazi, einen KZ-Wärter oder gar in Birgit Breuel hineinzuversetzen, dann zittern all diese schlechten Menschen innerlich vor Empörung über sich selbst.
Es ist fast alles unzeitgemäß an Günter Grass' neuem Buch: seine Konzeption, der Wille, das Jahrhundert in einen einzigen Band zu pressen, die Moral, der ferne Blick auf die Love Parade. Ein Tanz aus einer anderen Zeit. Volker Weidermann
Günter Grass: „Mein Jahrhundert“. Steidl, 1999, 348 S., 48 Mark oder 416 S. mit 100 Bildern, 98 Mark
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen