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Sehnsucht und CoronaFühlt ihr noch was?

Die Pandemie ist längst berechenbar geworden, aber die Regierung tut weiter so, als würde sie ständig ganz arg überrascht. Und wir so?

Vielleicht sind wir einfach zu müde für Gefühle? Foto: Noah Buscher/Unsplash

S cheiß Corona“, sagt sie. Wir gehen zusammen spazieren. Sie ist eine gute Freundin, und zusammen spazieren heißt, dass wir nachts um 17.30 Uhr um ein, zwei, drei Blocks in unserem jeweiligen Stadtviertel gehen und dabei telefonieren. „Frische Luft tut gut“, sage ich. „Hm. Fühlst du das wirklich? Fühlst du noch was?“, fragt sie.

Ich denke, dass das eine gute Frage ist. Das mit der frischen Luft sage ich eher so dahin, wie ein Sprichwort, weil es leichter ist, Sprichwörter zu zitieren, wenn man selbst keine klugen Gedanken mehr hat. Währenddessen ziehe ich in Vierecken durch den Abend wie eine Brettspielfigur. Eigentlich habe ich längst den Überblick verloren. Über das Datum: 2020, 2021 oder 2022? Was ist der Unterschied zwischen Dienstag und Mittwoch? Über die Zahlen: Welle vier(einhalb), Inzidenz irgendwo 2000+, Todesfälle über 100.000, Impfquote zu wenig. Über die Wut: Was ist der schlimmste Satz von Jens Spahn? Alles ist durcheinander und trotzdem immer gleich. „Vielleicht sind wir zu erschöpft für Gefühle“, sage ich.

Für Gefühle gibt es ohnehin nicht genug Therapieplätze. Ich stelle mir Deutschland als einen Ort vor, an dem Millionen Menschen gegen Wände schreien, gegen Spiegel, gegeneinander. Mit einer Hand klatschen sie sich ab und zu ins Gesicht, um zu überprüfen, ob sie noch da sind. Mit der anderen Hand gehen sie ihren Bür­ge­r:inn­enpflich­ten nach: arbeiten, Steuererklärung, einkaufen, wählen, Bad putzen, Baby füttern, Mutter anrufen, Vater pflegen, sich vierteilen – der Tag hat nur 24 Stunden – und sich danach wieder zusammenreißen.

„Scheiß Corona“, seufze ich in mein Kopfhörermikro, obwohl ich weiß, dass ich was anderes meine. Die Pandemie ist längst zu großen Teilen berechenbar geworden, aber die Regierung tut weiter so, als würde sie ständig böse überrascht. Als bliebe nur die Eigenverantwortung, je­de:r für sich; ganz steinzeitlich oder neoliberal überleben die Starken, die Reichen, die mit den Connections. Sie kaufen noch eine Wohnung, sie kaufen den Stress weg (ich kaufe mir am Späti noch eine Limo), vielleicht kaufen sie bald Grundstücke auf dem Mond, wenn hier alles unter Wasser steht. Das alles liegt nicht an Corona, sondern daran, dass wir von vornherein kein wirklich solidarisches Gesellschaftsmodell hatten.

Was sich lohnt

Ich stelle mir uns auch als Menschen vor, die längst wissen, dass es so nicht weitergeht. Aber auch als welche, die selbst im Angesicht der größten Krisen nicht radikal sein, ja, nicht mal so wirken wollen. Wir machen ja was: kein Plastik, weniger Auto, die Geburtstagsparty absagen, den Pflegestreik unterstützen, gebraucht kaufen. Bloß reicht das nicht, ohne Politik, die zeigt, dass Veränderung im Kleinen sich lohnt, weil das Große mitzieht, oder sogar vorgeht.

„Stell dir vor, man müsste nicht um ein gutes Leben kämpfen, sondern würde eins bekommen, damit man für was anderes kämpfen kann“, sagt sie. Und ich denke, ich sollte jetzt was fühlen, Sehnsucht vielleicht.

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Lin Hierse
taz-Redakteurin
Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Nach ihrem Debüt "Wovon wir träumen" (2022) erschien im August ihr zweiter Roman "Das Verschwinden der Welt" im Piper Verlag. Foto: Amelie Kahn-Ackermann
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2 Kommentare

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  • Ahhh wie gut! Geht runter wie Butter. Ich fühle was!

  • Ein guter Text, danke dafür! Von einem solidarischen Gesellschaftsmodell würden wir ganz bestimmt auf vielen Ebenen profitieren.



    Für mich heißt das nicht zwangsläufig, dass alle einer Meinung sein müssen und das Gleiche tun. Aber einander zuhören, auch gegenstehende Positionen bedenken und dann gemeinsam handeln - das wär´s!