Seenotrettung im Mittelmeer: Unter Beschuss
Am vergangenen Sonntag hat die libysche Küstenwache die „Ocean Viking“ angegriffen. Nun ermittelt die italienische Polizei.
Am Sonntag war die „Ocean Viking“ von einem Schiff der libyschen Küstenwache beschossen worden. Das Seenotrettungsschiff war nach Angaben der Besatzungsmitglieder in internationalen Gewässern unterwegs, etwa 40 Seemeilen vor der libyschen Küste, auf der Suche nach einem Geflüchtetenboot in Seenot. Neben der Crew waren 87 bereits aus Seenot gerettete Menschen an Bord.
Gegen 15 Uhr sei ihnen ein Corrubia-Patrouillenboot der libyschen Küstenwache begegnet – also ein Modell, das 2023 von Italien im Rahmen eines EU-Programms an Libyen übergeben wurde. Über das Funksystem hätte die libysche Küstenwache die „Ocean Viking“ dazu aufgefordert, das Gebiet zu verlassen. In internationalem Gewässern hat die Küstenwache zwar kein Recht dazu. Die Besatzung der „Ocean Viking“ habe sich dennoch über Funk dazu bereiterklärt, in Richtung Norden abzudrehen.
Trotzdem hätten zwei Männer ohne Vorwarnung das Feuer eröffnet. Etwa 20 Minuten habe der Beschuss gedauert. Fotos zeigen, dass Schüsse die Brücke der „Ocean Viking„trafen, Fenster auf Kopfhöhe durchschossen wurden, Rettungsboote und Ausrüstung beschädigt.
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Salven auf das Schiff
Besatzungsmitglied John war während des Angriffs mit den geretteten Geflüchteten im Männerschutzraum an Bord. „Wir hörten Einschläge am Rumpf, direkt neben uns. Durch das Fenster konnten wir ihre Flagge sehen. Während sie uns umkreisten, feuerten sie sowohl Einzelschüsse als auch Salven auf das Schiff und unsere Rettungsboote“, berichtet er. Ein Notruf der „Ocean Viking“ an die nächstgelegene Nato-Einheit, ein Schiff der italienischen Marine, sei nicht entgegengenommen worden.
„Der libyschen Küstenwache geht es darum, die Seenotretter*innen einzuschüchtern“, vermutet Julia Leithauser, Sprecherin von SOS Méditeranée. Immer wieder kommt es im Mittelmeer zu Begegnungen zwischen libyschen Patrouillenbooten und Schiffen der zivilen Seenotrettung. Dabei gab es auch in der Vergangenheit Zusammenstöße, Warnschüsse oder Schüsse auf Geflüchtetenboote. Der Vorfall vom Sonntag sei aber eindeutig eine Eskalation, so Leithauser.
Italien und die EU unterstützen die libysche Küstenwache seit 2017 – mit Geld, Technik, Ausrüstung und operativ. Im Gegenzug soll die Küstenwache Menschen davon abhalten, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Doch die Einsatzkräfte sind immer wieder an schwersten Menschenrechtsverletzungen beteiligt, wie Berichte der Vereinten Nationen zeigen.
Geflüchtete berichten von Folter, Vergewaltigungen, Zwangsarbeit und Sklaverei in libyschen Internierungslagern. Regelmäßig rette die „Ocean Viking“ Schiffbrüchige, die Foltermale aufweisen, berichtet auch Leithauser. Die libysche Küstenwache lauere Booten auf, nehme die Flüchtenden gefangen und verbringe sie in Gefängnislager an Land.
Auf brutalste Weise
Manchmal montierten sie sogar die Motoren der Boote ab und verkauften sie an die nächsten Schlepper. „Die Ausbeutung von Menschen auf der Flucht ist in Libyen zum Geschäft geworden“, meint Leithauser.
SOS Méditeranée fordert von der EU, die Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache zu beenden. Auch Marcel Emmerich, Sprecher für Innenpolitik der Grünen Bundestagsfraktion findet: „Die Zusammenarbeit der EU mit der libyschen Küstenwache ist ein großer Fehler und muss beendet werden.“ Der Beschuss der „Ocean Viking“ zeige, wie Retter und Gerettete auf brutalste Weise zur Zielscheibe würden. Wer schweige, mache sich mitschuldig am Sterben an Europas Außengrenzen.
In den vergangenen zehn Jahren haben zivile Seenotretter*innen etwa 175.000 Geflüchtete auf dem Mittelmeer geborgen. Auch die „Ocean Viking“ will weiterhin Menschen aus Seenot retten. Zuerst müssten aber das Schiff und die Ausrüstung repariert werden. „Und wir fragen uns jetzt natürlich: Wie arbeiten wir weiter, ohne uns und die Menschen, die wir retten, in Gefahr zu bringen?“, sagt Leithauser. „Aber keine*r von uns ist bereit aufzugeben.“
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