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Seelischer Stress in der PandemieSicherheitszone für alle

Ambros Waibel
Kommentar von Ambros Waibel

Ein Mann hat sich aus Angst vor Covid drei Monate im Flughafen versteckt und wurde verurteilt. Dabei braucht es einen solidarischen Shutdown.

Sicher ist sicher: Flughafen Foto: Youngrae Kim/Chicago Tribune/imago

K ürzlich las ich in meinem altmodischen sozialen Medium den Satz „Anne Frank konnte über 2 Jahre nicht raus, deshalb würde ich vorschlagen, die Jammersirenen abzuschalten“. Dieser Satz beschäftigt mich. Denn wenn meine Erziehung mir etwas, nun ja, eingeimpft hat, dann ist es ein „Nie wieder“, das auf konkrete Situationen anzuwenden einem freilich selbst überlassen bleibt. Die Bandbreite reicht da inzwischen von der berüchtigten Jana aus Kassel bis zu der schon zu Weihnachten verbreiteten Botschaft: Im Krieg war alles noch viel schlimmer!

Ich denke auch nach einem Jahr Leben mit der Pandemie: Es ist falsch, zu hart zu werden. Es ist unangebracht, sich zur emotionalen Abhärtung in historische Situationen zu versetzen, die mit der aktuellen wenig zu tun haben. Der dauernde Appell, sich zusammenzureißen, prallt schon an einem 15-Jährigen im Bildungsshutdown ab, der sich altersgerecht in einer Lebensphase befindet, wo es gerade um das Gegenteil von Zusammenreißen geht.

Ich blicke mit Verständnis auf den Mann, der sich, angeblich aus Angst vor einer Ansteckung beim Weiterflug, drei Monate in der „Sicherheitszone“ auf dem Flughafen von Chicago versteckte und nun entdeckt und verurteilt wurde. Die Sehnsucht nach einer Sicherheitszone, nach einem Winterschlaf betrifft nicht nur die zwischen Arbeitsverpflichtung (und Lust dazu) und den Verpflichtungen gegenüber ihren Lieben (und dem Verlangen danach) Hin-und-her-Gerissenen.

Es geht halt nicht nur um diejenigen in der „Rushhour des Lebens“, sondern auch um die Jungen, denen eben die altersgerechte relative Verpflichtungs- und Bindungslosigkeit – oder jedenfalls die Möglichkeit dazu – nun auf die Seele schlägt.

Alle gleich hart im Herunterfahren

Das Mittel, das eine sich verdientermaßen demokratisch nennende Gesellschaft im Notstand kennzeichnete, ist ein gesellschaftliches Mittel: Solidarität. Wenn alle gleich hart im Herunterfahren sind, können individuelle Härten und Verhärtungen zumindest ausgeglichen werden. Wenn wir in den solidarischen, europäisch synchronisierten Shutdown gehen, sagt Michael Meyer-Hermann vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, könne man in ein, zwei Monaten die Situation kontrollieren. Meyer-Hermann nennt deswegen die Initiative „Zero Covid“ ein „sinnvolles Ziel“. Danach wäre dann ein „halbwegs normales Leben möglich“: in einer Sicherheitszone für alle.

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Ambros Waibel
taz2-Redakteur
Geboren 1968 in München, seit 2008 Redakteur der taz. Er arbeitet im Ressort taz2: Gesellschaft&Medien und schreibt insbesondere über Italien, Bayern, Antike, Organisierte Kriminalität und Schöne Literatur.
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2 Kommentare

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  • Es bleibt Herrn Meyer Herrmann unbenommen sich aus seiner Sicht des Physikers zu dem komplexen Thema zu äußern. Allerdings werden dadurch solche extremistischen Überlegungen wie Zero Covid attraktiver oder glaubwürdiger. Die fundamentalen Schwachstellen sind an anderer Stelle bereits hinreichend diskutiert.

    • @alterego:

      Zero Covid, oder genauer, eine Suppressionstrategie, ist nicht extremistisch. Es ist eine Strategie, der eine ganze Reihe von sehr unterschiedlichen Ländern (China, Taiwan, Südkorea, Australien, Vietnam, Neuseeland, Sri Lanka) erfolgreich gefolgt sind - alle diese haben weniger als 40 Tote pro Million Einwohner, teilweise weniger als einen Toten pro Million Einwohner, während Deutschland inzwischen über 530 Tote pro Million Einwohner hat.

      Alle diese Länder haben _aufgrund_ ihrer erfolgreichen Strategie weniger Beschränkungen und eine besser funktionierende Wirtschaft als die europäischen Länder und die USA. Woran das liegt und welche Maßnahmen im Detail praktisch übertragbar sind oder auch nicht, darüber kann man diskutierten.

      Fakt ist aber, dass die "Europäer" eine lückenlose Kontaktverfolgung und eine konsequente 14-tägige Quarantäne bei Einreisenden nie auch nur versucht haben zu erreichen. Insbesondere gab es im Januar / Februar 2020 keine Einreisebeschränkungen aus China und im März auch keine Quarantäne der Leute die aus Ischgl kamen, mit den bekannten Resultaten.

      Die Maßnahmen, die jetzt nötig sind, bedeuten für die große Mehrheit der Menschen weit größere Einschränkungen und sind auch erheblich schädlicher für die Wirtschaft. Was die Binsenweisheit unterstreicht, dass man keine grassierende Seuche haben kann und gleichzeitig eine gut funktionierende Wirtschaft.

      Aber was noch schlimmer ist, die aktuellen Maßnahmen in Deutschland reichen absehbar noch nicht, um die B.1.1.7 Mutation einzudämmen, deren Fallzahlen sich in Dänemark immer noch jede Woche verdoppeln, während die normalen Varianten langsam zurückgehen. Denn bei dieser Mutation ist der R-Faktor pro Generation um 0.4 bis 0.7 erhöht. Praktisch bedeutet das eine Verdoppelung pro Woche.

      Es braucht nicht viel Rechenkunst um zu sehen, dass uns das ungefähr im März, früher oder später aber ganz sicher, gewaltig um die Ohren fliegen wird. Eine Vollbremsung ist angemessen.