Sea Watch-Kapitän über Krisen: „Ein erweiterter Ereignishorizont“
André Montaldo-Ventsam rettete als Kapitän Geflüchtete im Mittelmeer und betreibt derzeit einen Laden. Ein Gespräch über Krisen und das Weitermachen.
taz: Herr Montaldo-Ventsam, man könnte sagen, dass Sie krisenfest sind. Wie sollten wir mit der derzeitigen Situation umgehen?
André Montaldo-Ventsam: Die Krise aus einem anderen Blickwinkel sehen. Sie bricht mit dem Status quo, mit Vertrautem. Das ist für uns verstörend und bedrohlich, aber man muss es unabhängig von persönlichen Auswirkungen sehen. Eine Krise ist ein erweiterter Ereignishorizont.
Verglichen mit anderen Ländern ist die Situation hier ja kaum bedrohlich.
Wir verfügen über ein enormes Maß an Privilegien. In einem Land wie Ecuador liegen die Leichen auf der Straße. Die massive Fokussierung auf Deutschland ist nachvollziehbar: Wenn es bedrohlich wird, verengt sich das Blickfeld, Unwichtiges wird ausgeblendet. Das ergibt Sinn, um das Wesentliche besser vor Augen halten zu können. Nach dem ersten Schreck muss man den Fokus wieder aufmachen, um einen Überblick zu bekommen. Oft lassen sich neue Optionen finden, die nun eine Chance bieten.
Welche Chancen sollten wir nutzen?
Wir brauchen an den entscheidenden Stellen Leute, die freier denken können. Beispiel: Schulen. Da wurde versucht, einen Status Quo wiederherzustellen; in die Haushalte zu transferieren, was sonst nur vor Ort machbar ist. Man könnte ja überlegen, was noch möglich ist, und auf Zeugnisse verzichten, das würde sofort Druck von allen Beteiligten nehmen. Ich kann nicht von einem Schulleiter erwarten, dass er auf Katastrophenmanager umschaltet.
Wie haben Sie Ihre Lebenskrisen überstanden?
Ich habe mir oft einen viel zu großen Schuh angezogen und musste erst hineinwachsen. Ich war erst Stufen-, dann Schulsprecher. Da habe ich das Sprechen vor Menschen gelernt, was mir bei der Leitung von Reisegruppen geholfen hat. Ich habe Krisenmanagement im Kleinen gemacht. Als Mitte-Zwanzigjähriger musste ich einer Gruppe von 20 Akademikern erklären: Wir können nicht an der Inka-Ruine vorbeifahren, weil die Straße mit einem Berg brennender Reifen besetzt ist.
wurde 1970 in Hamburg geboren. Vor dem Soziologie-Studium war er Entwicklungshelfer und leitete Studienreisen. 2015 und 2016 rettete er als ehrenamtlicher Kapitän mit dem Verein „Sea Watch“ Geflüchtete auf dem Mittelmeer. Seit 2006 betreibt er das „Kakao Kontor“ in Hamburg-Eimsbüttel.
Wie kamen Sie nach Ecuador?
Anfang der Neunziger habe ich nach dem Abitur ein halbes Jahr das Land bereist, weil ich dort Familie habe. Das war massiv beeindruckend, ich kam tief in gesellschaftliche Bereiche, in die man sonst nicht hineinblickt. Die indigene Bevölkerung will unter sich bleiben, aus gutem Grund. Später habe ich nebenher als Reiseleiter für Studienreisen gearbeitet. Bei Fotopausen kamen die Indigenas mit Steinen bewaffnet vom Feld zum Bus und forderten uns zum Weiterfahren auf. Das hat durchaus mit den schlechten Erfahrungen zu tun, die sie mit Weißen gemacht haben.
Dann haben Sie Soziologe studiert.
Ich bin ein Warum-Frager. Warum handeln Menschen so? Was ist der Grund? In meiner Jugend gab es den Kalten Krieg, die deutsche Teilung, Atomraketen: Darüber wollte ich Bescheid wissen.
Immer wieder haben Sie auch mit problematischen Jugendlichen gearbeitet.
Ich darf Traditionsschiffe bis 50 Meter Länge fahren, auf einem solchen Segler habe ich Jugendarbeit gemacht. Selbst bei einer kurzen Reise von zwei Wochen kann man eine gewisse Entwicklung bei Jugendlichen beobachten. Man befähigt sie, Dinge zu tun, die sie irgendwann zu Höchstleistungen anspornen. Das ist der Kern erlebnispädagogischer Arbeit. Kinder aus problematischen Gegenden sind überfordert, sie erwarten gar nicht, dass eine Situation ihnen positive Optionen liefert. Sie kennen es nicht, dass Menschen ihnen Freiraum geben, und schon gar kein positives Feedback. Dabei ist das das Wichtigste. Das Geld ist egal, mir gibt es mehr, wenn jemand meine Schoko-Cremes geil findet. Ich mache es für die positive Rückmeldung. Das ist wie für Freunde kochen: Du willst nicht, dass sie für das Essen bezahlen, du willst, dass es ihnen schmeckt.
2015 fuhren Sie erstmals mit der „Sea Watch“ durchs Mittelmeer, um Geflüchtete zu retten.
Ich kann Schiffe fahren, bin ausgebildeter Rettungssanitäter, habe Sicherheitstrainings absolviert und kann mit Gruppen umgehen. Das brauchte der Verein Sea Watch, denn er wurde damals von vielen motivierten, aber unqualifizierten Leuten kontaktiert. Das Problem: Man betreibt Seenotrettung mit Laien in einem Ausmaß, vor dem sogar Profis zurückschrecken. Man begibt sich in eine Situation, von der man weiß, dass die Crew dafür nicht ausgebildet ist. Im Zweifelsfall bin ich als Kapitän verantwortlich. Aber nur wenige Kapitäne und Nautiker hatten sich bei Sea Watch gemeldet.
Warum?
Die haben selten Lust, auch ihren Urlaub auf einem Schiff zu verbringen, und sind obendrein professionelles Arbeiten mit seediensttauglichen Leuten gewohnt. Ich wusste, worauf ich mich einlasse. Ich hatte im Sturm auf einem Segelschiff den Atlantik überquert und dutzende Male mit Rettungsinseln geübt – ohne solche Erfahrungen hätte ich mir das nicht zugetraut.
Im August 2015 waren Sie mit der „Sea Watch I“ zehn Tage lang auf See.
Von Lampedusa aus brauchten wir 24 Stunden in das Operationsgebiet und fuhren dann vor der Küste auf und ab. Wir haben gewartet, bis wir von einem Schiff oder von der Seenotzentrale in Rom etwas gehört haben, oder selber etwas sichten. Wenn man das Schlauchboot gefunden hat, sendet man ein motorisiertes Beiboot mit Rettungswesten, Wasser und einem Arzt zur Kontaktaufnahme aus. Man sichert die Leute, wenn nötig, mit einer Rettungsinsel, und wartet, bis sie von der italienischen Küstenwache geborgen werden. Die kleinen Sea-Watch- Schiffe waren eigentlich nicht geeignet, um 120 Menschen zu bergen.
Das hat funktioniert?
Am ersten Tag hat es perfekt funktioniert. Am fünften Tag war ich gerade aufgestanden, als das erste Boot gemeldet wurde. Im Halbstundentakt kamen weitere Meldungen hinzu, bis es fünf Schlauchboote waren, eines davon war schon am Sinken. Wir mussten alle zusammen holen: in der Mitte wir, um uns herum sechs Rettungsinseln, drei große Schlauchboote – und über 500 Menschen. Wir haben sie von vormittags um zehn bis abends um acht versorgt. Das war der Tag, an dem tausende Schiffbrüchige im Mittelmeer trieben, beinahe 20 Schlauchboote waren unterwegs gewesen.
War das bedrohlich?
Es hätte auch für uns gefährlich werden können. In so einem Boot sind ein paar Frauen, Kinder und alte Männer, aber die große Mehrheit sind junge Männer Anfang zwanzig, die schon Bürgerkriege erlebt haben. Die sind ein anderes Gewalt-Setting gewohnt, mit denen muss man vorsichtig umgehen. Dazu kommen die Umgangsformen der Italiener, die seit Jahren mit der Problematik umgehen müssen. Wenn die die Frauen aus den Booten zerren, während 200 boat people zugucken – das ist uncool. Schlimmer noch: Irgendwann ging uns das Wasser aus. In einem Boot sind zwei gestorben, darunter eine Schwangere. Das war entsetzlich: Sie trieb in einem vollgemüllten Boot, wie in einer Abwasserkloake.
Wie haben Sie diesen Tag bewältigt?
Ich konnte von allen Erfahrungen der letzten Jahre zehren. Welche Information brauche ich wann, wie funktioniert interkulturelle Kommunikation, wie erzeugt man eine gute Stimmung. Es war eine unglaubliche Erleichterung, diesen Tag absolviert zu haben. Ich habe dann die Rückmeldung von einem Sanitäter bekommen, dass er sich den ganzen Tag sicher gefühlt habe. Das war für mich entscheidend.
Viele würden das psychisch gar nicht durchstehen.
Ich hatte schon vorher eine gewisse emotionale Stabilität. Das ist eine Stressresistenz, die ich mir aneignete, als ich mit 16 Jahren Sanitätsdienste gemacht habe. In meinem Schokoladen-Geschäft hatte ich später einmal einen Wasserschaden und drei Mal ein Feuer, die Decke war auch schon einsturzgefährdet. Es gab Zeiten, wo mich Angstzustände und tiefe Verzweiflung plagten. Aber ich wusste, dass ich Krisen bewältigen kann. Einmal war ich eine Woche alleine im Urwald. Um dich herum ist es richtig laut, es knackt überall, es gibt seltsame Tiere. Das ist wie der dunkle Keller, in den du als Kind gehst. Du bekommst automatisch Angst, aber wenn du wieder hoch kommst, lachst du darüber. Genau so muss man versuchen, seine Angst in den Griff zu bekommen. Zurück zur Rationalität. Die Angst ergibt ja Sinn! Aber man muss versuchen, das Fenster wieder zu öffnen und sich auf seine Stärken besinnen.
Und dabei hilft Schokolade?
Bei Jugendarbeit auf Schiffen bekommt man wenig Schlaf. Man braucht Seelennahrung, da ist Schokolade ideal. Ich bin kein Bäcker, ich habe mein Hobby zum Beruf gemacht. Auf Segelreisen habe ich überall Schokolade gekauft: in Dänemark, auf Martinique, Kuba, den Kanaren. Meine damalige Freundin hatte gerade ihren Job aufgegeben. Wir hatten ein bisschen Zeit und Geld und wollten was Geiles zusammen machen. Wir haben das Geschäftskonzept 2006 entwickelt, dann habe ich das Schokolademachen in Belgien und der Schweiz gelernt. Damals hatten alle Länder um Deutschland herum geile Sachen, nur wir nicht.
Wie ist Ihre Lage in der Krise?
Direkt vor der Krise haben wir uns neue Geräte zugelegt, um von der Bohne an alles selbst zu machen. Wir wollten neue Produkte und Verpackungen etablieren, als uns das Virus hineingegrätscht ist. Seit Mitte März ist unser Umsatz um 95 Prozent eingebrochen.
Und jetzt?
Ich habe schon zuvor oft überlegt, aufzuhören. Aber es geht nicht ums Geld, sondern darum, so zu arbeiten, wie man arbeiten will. Die Struktur ist wichtig. Ich habe mir die Schokolade ausgesucht, habe Ideen dazu und versuche, damit kreativ zu arbeiten. Diesen Mechanismus kann man auch auf anderes anwenden. Ich habe schon neue Geschäftsideen. Und: Als Ausgleich zum Kakao Kontor habe ich mir immer Auszeiten genommen. Da geht es auch um Selbstwertgefühl. In meinem schlimmsten Jahr war ich zwei Wochen auf der Sea Watch und habe gemerkt: Ich kann ja doch was.
Sie geben auch Kurse an der Volkshochschule. Was ist beim Schokolade-Machen die wichtigste Technik?
Es gibt nur eine. Man muss Schokolade richtig kristallisieren können, sodass sie vernünftig fest wird, nachdem sie flüssig war. Das ist im Prinzip das Einzige. Ansonsten: neugierig sein!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern