Schwer-In-Ordnung-Ausweis in Hamburg: Leider nicht genug
Die Hamburger Sozialbehörde will einem Jungen einen „Schwer-In-Ordnung-Ausweis“ ausstellen. Das ist gut, wenn es nicht nur nett gemeinte PR ist.
Zuschreibungen von außen gefallen in der Regel niemandem. Nicht zuletzt in der Community der Menschen mit Behinderungen ist man über sie oftmals besonders unglücklich. Die Fragen „Wie nennen mich andere?“ und „Wie nenne ich mich?“ werden hier immer wieder diskutiert. Vor drei Wochen machte sich eine Schülerin aus Pinneberg bei Hamburg darüber Gedanken.
Die 14-Jährige mit Downsyndrom mochte ihren Schwerbehindertenausweis nicht, sie war insbesondere mit der Bezeichnung „schwerbehindert“ unzufrieden. Sie wollte nicht länger in einem offiziellem Dokument, das ihre Person beschreibt, von außen kategorisiert werden. Deswegen bastelte sie sich einen anderen Ausweis, den sie Schwer-In-Ordnung-Ausweis nannte und von nun an im Bus vorzeigen wollte. Berichtet wurde darüber zuerst in der Hamburger Vereinszeitschrift Kids Aktuell – Magazin zum Down-Syndrom und ging kurz darauf unter dem Hashtag #schwerinordnung viral. Hannah bekam viel Aufmerksamkeit und einen ersten Nachahmer: Ein Junge mit Behinderung beantragte einen Schwer-In-Ordnung-Ausweis beim Hamburger Versorgungsamt. Und super ist: Der Ausweis soll ihm nun auch ausgestellt werden.
Die Hamburger Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) sagte am Dienstag in der NDR-Radiosendung „Treffpunkt Hamburg“: „Menschen mit Behinderung empfinden sich als ganz normale Menschen, als Teil dieser Gesellschaft, und sie haben keine Lust, von Dritten immer als eine bestimmte Gruppe klassifiziert zu werden.“ Schade ist, dass die Verwaltung den Ausweis lediglich als Begleitdokument ausstellt – immerhin ganz unbürokratisch. Der offizielle, amtliche Ausweis soll weiterhin Schwerbehindertenausweis heißen. Die Antwort der Hamburger Behörde geht also nicht über eine gut gemeinte Geste, über PR hinaus. Der Antrag des Jungen und auch der Protest der Schülerin werden, so der Eindruck, nicht als ernst gemeinte Forderung verstanden. Sie seien eine „herzerweichende Geschichte“, so ein Sprecher des Amts.
Begrifflichkeiten wie „mehrfachbehindert“ oder „wesentlich behindert“ werden in Gesetzestexten verwendet, um zu kategorisieren und bestimmte Rechte und Leistungen zusagen oder abblocken zu können. „Schwerbehindert“ ist laut Gesetz jemand mit einem Grad der Behinderung ab 50 (auf einer Skala bis 100). Doch finden Begriffe wie „schwerbehindert“ dann auch Anwendung im Alltag, in Medien und Politik.
Eine sehr individuelle Entscheidung
Solche Begriffe machen eine Dichotomie zwischen „behindert“ und „normal“ auf und reduzieren Menschen auf eine Eigenschaft: das Behindertsein. Aus den Diskussionen der Community der letzten Jahre resultierten bisher einige Änderungen, so wurde aus „Behinderte“ der Begriff „Menschen mit Behinderung“ oder aus „geistig behindert“ der Begriff „Menschen mit Lernschwierigkeiten“. Doch auch diese Begriffe stehen vielfach in der Kritik. Wie man genannt werden will, sei eine sehr individuelle Entscheidung. Einige Betroffene wollen zum Beispiel lieber als „Menschen mit Einschränkungen oder Beeinträchtigung“ bezeichnet werden.
Während Diskussionen über Selbstbezeichnungen bei LGBTI und People of Color öffentlich stattfinden, fehlen Menschen mit Behinderungen oftmals Plattformen, um Themen in die Öffentlichkeit zu tragen. Wenn es, wie jetzt, doch breite Wahrnehmung gibt, wären deshalb diese Fragen wichtiger als allein eine gut gemeinte Geste: Was bedeutet es, als schwerbehindert bezeichnet zu werden? Welche Rolle spielt Sprache für Inklusion und Teilhabe? Oder einfacher: Wie wollt ihr genannt werden?
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Mitarbeiter des Monats
Wenn’s gut werden muss
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Social-Media-Star im Bundestagswahlkampf
Wie ein Phoenix aus der roten Asche
Erpressungs-Diplomatie
Wenn der Golf von Mexiko von der Landkarte verschwindet
80 Jahre nach der Bombardierung
Neonazidemo läuft durch Dresden
Zwei Todesopfer nach Anschlag in München
Schwer verletzte Mutter und Kind gestorben