piwik no script img

Schweiz stimmt über Atomausstieg abEine Mehrheit will die Energiewende

Die Schweizer stimmen am Sonntag über ein Verbot von neuen AKWs ab. Die Chancen stehen gut, dass eine Mehrheit für den Ausstieg ist.

Das Schweizer Atomkraftwerk Beznau ist das dienstälteste kommerzielle AKW – Block 1 ging 1969 ans Netz Foto: dpa

Zürich rtr | Die Nuklearkatastrophe von Fukushima hat in vielen Ländern ein radikales Umdenken beim Thema Atomenergie ausgelöst. Über Nacht wurde sie zum Auslaufmodell. Deutschland preschte voran und peilt bis 2022 einen vollständigen Atomausstieg an. In der Schweiz soll die Energiewende jetzt in Gang gebracht werden: In der Alpenrepublik stimmen am kommenden Sonntag als erstes Land seit Fukushima die Bürger darüber ab, ob der Bau neuer Atomkraftwerke verboten und der Verbrauch fossiler Brennstoffe einschränkt wird. Strom soll stattdessen vermehrt aus erneuerbaren Quellen wie Wasser, Wind, Erdwärme, Sonne und Biomasse gewonnen werden.

Insgesamt soll sich der Energieverbrauch bis 2035 im Vergleich zum Jahr 2000 fast halbieren. In der jüngsten Umfrage des Berner Forschungsinstituts GFS für den Schweizer Rundfunk sprechen sich 56 Prozent der Befragten für die Energiewende aus.

Derzeit erzeugt die Schweiz mehr als ein Drittel ihrer Elektrizität mit Atomkraft. Der überwiegende Teil stammt mit rund 60 Prozent aus Wasserkraft. Lediglich vier Prozent kommen aus anderen erneuerbaren Quellen wie Sonne und Wind. Den Ausfall durch den Abschied von der Atomkraft will die Regierung neben dem Ausbau von erneuerbaren Energien auch über einen geringeren Stromverbrauch kompensieren. Deutschland ist der Schweiz voraus: Dort stammen bereits ein Drittel aus erneuerbaren Quellen.

Im Gegensatz zu Deutschland gibt es für Atomkraftwerke in der Schweiz kein fixes Ablaufdatum, an dem sie vom Netz genommen werden. Vielmehr können sie in Betrieb bleiben, solange die Aufsichtsbehörden sie als sicher einstufen. Neue Werke soll es aber nicht mehr geben.

Die zur Abstimmung stehende Vorlage wird von weiten Teilen der bürgerlichen und linksgrünen Parteien unterstützt, aber von Konservativen wie der Schweizerischen Volkspartei (SVP) abgelehnt. „Wollen wir den Deutschen jeden Blödsinn nachmachen“, fragt etwa Kurt Zollinger vom „Komitee zur Rettung des Werkplatzes Schweiz“.

Höhere Kosten befürchtet

Die Wirtschaft ist gespalten. Die Umstellung kostet nach Schätzungen der Regierung jährlich rund eine Milliarde Franken. Ein vierköpfiger Haushalt müsste demnach pro Jahr mit einer zusätzlichen Belastung von etwa 40 Franken rechnen. Gegner der Vorlage befürchten weitaus höhere Kosten und dass allein die Kleinkunden dafür aufkommen sollen. Auch sei die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Schweiz für ihre Grundversorgung deutschen Kohle- oder französischen Atomstrom importieren oder den Bau von Gaskombikraftwerke vorantreiben müsse.

„Wir werden nur Strom haben, wenn die Sonne scheint oder der Wind bläst“, sagt Toni Brunner von der SVP. Es drohen auch Klagen der Bürger gegen den Neubau von Windkraft- und Solaranlagen, weil sie die dafür nötigen baulichen Eingriffe in die Landschaft ablehnen. Antoine Millioud von der auf Energiefirmen spezialisierten Beteiligungsgesellschaft Aventron hofft dennoch, dass mit dem Gesetz der Bau von Windenergieanlagen einfacher wird. „So wie es jetzt ist, ist es unmöglich Windprojekte zu bauen.“ In der Schweiz stehen derzeit gut 30 Windturbinen, in Deutschland sind es über 26.000.

Die Schweizer Strombranche unterstützt die Pläne. Den großen Stromkonzernen wie BKW, Alpiq und der mehrheitlich im Besitz der Kantone stehenden Axpo winkt bei einer Annahme der Vorlage eine finanzielle Unterstützung. Diskutiert wird auch über direkte Staatshilfe und einen Verkauf von Stauseen.

Vorbild Deutschland

Alpiq und der Verluste schreibenden Axpo schwebt ein ähnlicher Weg vor wie ihn die deutschen Konkurrenten EON und RWE gegangen sind: eine Aufspaltung. Bereiche, die sich rechnen, sollen von den verlustbringenden getrennt werden. Das Geschäftsmodell der Energiekonzerne war in den vergangenen Jahren wegen der gefallenen Großhandelspreise für Strom in Europa ins Wanken geraten.

Dass die Energiewende auch in der Schweiz funktionieren kann, zeigt sich in Hohentannen, einer kleinen Landgemeinde auf einer Anhöhe zwischen Bodensee und Alpsteingebiet mit 300 Einwohnern. Dort schmücken neben Gartenzwergen auch kleine Windräder die Vorgärten und Solarzellen spiegeln sich auf den Hausdächern. Seit Fukushima kauft Hohentannen keinen Atomstrom mehr, sondern setzt voll auf erneuerbare Energien.

Die Energiewende im Kleinformat wird aktiv mit öffentlichen Zuschüssen gefördert. Jedes neunte Haus produziert eigenen Strom mit Solaranlagen und die Fläche der Photovoltaikanlagen entspricht inzwischen mehr als einem Fußballfeld.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

4 Kommentare

 / 
  • Der Komiker vom „Komitee zur Rettung des Werkplatzes Schweiz" hat keine Ahnung. Für Atomphysiker brechen goldene Zeiten an. Erstens muss sich jemand um den Müll kümmern, und zweitens ist die Fusionsforschung gerade erst gestartet.

     

    "Energiewende" ist ein falscher Begriff und ideologisch aufgeladen, denn hier werden nur nukleare Kaminfeuer nicht weiter betrieben. (Das moderierendes Blei nur Zauberkraft besitzt, wussten die Physiker schon lange).

  • 8G
    82236 (Profil gelöscht)

    Für den neuen französischen Energieminister Nicolas Hulot wäre ein Entscheid für den Ausstieg Wasser auf den Mühlen, er ist nämlich gegen Atomkraft und sein Premier Édouard Philippe dafür. Denn in Frankreich müssen umbedingt einige hochgefährliche Kernkraftweke so schnell wie möglich abgeschaltet werden.

  • Ja, Energieverbrauch halbieren. Und nicht Elektromobiltät und Heizen mit Strom forcieren. So wird dann auch ein Schuh draus. Effizienz und Suffizienz sind die Schlagwörter.

    Übrigens gibt es auch in Deutschland kleinere "energieautarke" Gemeinden und Städte.

    • @Energiefuchs:

      Mehr oder weniger als 10?