Schweinswal-Population der Nordsee: „Die Kurve geht Richtung Nullachse“
Die Schweinswal-Population der Nordsee sinkt seit Jahren dramatisch. Um den Trend zu stoppen, müsste ein streng überwachtes Schutzgebiet her.
Der jüngste Alarm gilt den Nordsee-Schweinswalen. Vom Aussterben bedroht, stehen sie streng unter Schutz – eigentlich. In der Praxis allerdings bietet ihr Schutzgebiet vor Sylt nur wenig Sicherheit. „Klar, auf dem Papier sieht das ganz nett aus“, winkt Borcherding ab, „aber mehr als Papier ist das eigentlich auch nicht. Selbst da ist ja Fischerei erlaubt.“ Die Bestände schwinden seit Jahren besorgniserregend. „Wenn sich nichts ändert, dauert es nur noch wenige Jahrzehnte, und auch die letzte Walart unserer Küste ist unwiederbringlich verloren“, sagt Borcherding.
Eine Studie der Tierärztlichen Hochschule Hannover hat jüngst örtliche Rückgänge bis zu 60 Prozent nachgewiesen. Insgesamt sank die Population von 2002 bis 2019 pro Jahr um 1,8 Prozent. „Die Kurve geht kontinuierlich runter Richtung Nullachse“, so Borcherding, „und wir lassen es zu, sehenden Auges.“
Gleich der erste Satz der Hannoveraner Studie macht klar, wo das Problem liegt: Die Nordsee sei „eine der am stärksten genutzten Schelfregionen weltweit“, heißt es da, „mit einer Vielzahl menschlicher Auswirkungen.“
Gemeint sind etwa der Unterwasserlärm durch Offshore-Bauten, militärisches Sonar und die Sprengung maroder Munitionsaltlasten. Da ist die Fischerei, die den Walen ihre Nahrung raubt und in deren Stellnetzen viele von ihnen ertrinken. Da sind die Chemikalien der Industrie und Agrarwirtschaft, die über Flüsse ins Meer gelangen. Da sind der Plastikmüll und die Unfähigkeit kommunaler Kläranlagen, Medikamente und Hormone zurückzuhalten. Da sind die Teerreste, Ölfilme und Kollisionsunfälle durch Schiffe. Und da ist nicht zuletzt der Klimawandel, der Beutefische nach Norden abwandern lässt. „Klar, das sind dicke Bretter, die man da bohren muss“, sagt Borcherding. „Aber wir müssen es versuchen.“
Thilo Maack, Meeresbiologe bei Greenpeace
Und dann erzählt er, was die bis zu 200 Dezibel lauten Hydraulik-Schlagrammen anrichten, mit denen die Stützpfeiler der Windkraft-Fundamente in den Meeresboden getrieben werden: „Das ist ein Höllenlärm. Oft führt er zu schweren Hörschäden, und das ist bei einem Tier, das sich akustisch orientiert, natürlich fatal. Manche Wale sterben auch einfach, durch blutende Ohren.“
40 Gigawatt Offshore-Leistung sollen bis 2040 ins Meer geklotzt werden, so will es die Ende 2020 in Kraft getretene Änderung des Windenergie-auf-See-Gesetzes.
Zudem raubt Überfischung den Schweinswalen die Nahrungsgrundlage. Nicht nur Kabeljau, Makrele und Hering sind selten geworden. Auch ihr letzter Ersatz, der Sandaal, wird inzwischen stark befischt: weniger für den menschlichen Verzehr, sondern als Viehfutter. „Die Nordsee ist für Schweinswale ein lebensfeindlicher Ort!“, sagt Thilo Maack, Meeresbiologe bei Greenpeace in Hamburg. „Was wir brauchen, sind echte, strikt überwachte Schutzgebiete, ohne Fischerei, ohne Sand- und Kiesentnahme, ohne Öl- und Gasindustrie, ohne Windparks.“
Auf dem Papier gebe es „jede Menge toll klingender Paragrafen“, aber es fehle an konsequenter Umsetzung, rigider Kontrolle, empfindlicher Sanktionierung von Verstößen. Und jeder Fischer müsse ein automatisches Identifikationssystem an Bord haben, auf GPS-Basis, „das zugleich zeigt, wann er fischt und wann er nur auf Transit ist. Als Pflicht! Auf freiwillige Maßnahmen zu hoffen, hat noch nie was gebracht.“
Die konventionelle Landwirtschaft müsse auf Bio umgestellt werden, ergänzt Borcherding, und die Windpark-Industrie endlich leisere Verfahren nutzen. Geben tue es die bereits: Sogenannte Vibrationsrammen etwa, die den Pfahl in den Boden rütteln. Andere Varianten wären Bohr- und Saugeimer-Verfahren oder Schwerkraftfundamente, die nur auf dem Meeresboden abgestellt werden – oder gleich schwimmende. „Aber die sind eben ein bisschen teurer“, sagt Borcherding bitter, „also lässt man’s.“
23.000 Schweinswale gibt es in der deutschen Nordsee noch, vielleicht. Selbst im Sylter Schutzgebiet, wo ihre Jungen heranwachsen, sinkt ihre Zahl – besonders stark sogar. Maack: „Absurde Situation.“
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