Schwedische TV-Serie „Limbo“: Das Grauen hinter dem Healthy Food
Die schwedische Serie „Limbo – Gestern waren wir noch Freunde“ beleuchtet Mutter-Sohn-Beziehungen, ohne in die Kitsch-Falle zu tappen. Es gelingt gut.
Aus der Karibik kennt man jenen Tanz, bei dem man mit nach hinten gebeugtem Körper unter einem immer tiefer gehaltenen Stab hindurchschlängeln muss, ohne diesen zu berühren.
Der „Limbo“ wird auch in unseren Breiten immer dort eingesetzt, wo Frohsinn und Überschwang Einzug halten sollen, z. B. auf Hochzeiten mit schwangerer Braut (Bauch reißt Stange) und auf Kindergeburtstagen, nach der traditionellen Schokokuss-Schlacht.
Der Begriff ist besetzt und es fällt schwer, ihn mit etwas anderem als Remmidemmi in Verbindung zu bringen. Aber es gibt noch eine weitere Bedeutung, einen anderen Gebrauch des Wortes, die hierzulande kaum bekannt sein dürfte und jetzt durch eine TV-Serie in den Fokus rückt.
In „Limbo – Gestern waren wir noch Freunde“ wird der Zustand zwischen Erstarrung und Unsicherheit zum Thema gemacht, und zwar auf eine Weise, die dem Zuschauer keine Minute Entspannung gönnt.
„Limbo – Gestern waren wir noch Freunde“, Schweden 2023, 6 Folgen, zu sehen in der ARD-Mediathek
„To be in limbo“ beschreibt im Englischen nämlich das Gefühl, in der Schwebe zu sein und nicht herauszukommen, bis irgendeine Form von Erlösung oder Gewissheit diese Phase beendet. Jeder kennt es – man wartet z. B. auf eine erlösende E-Mail oder einen wichtigen Rückruf und ist in dieser Zeit kaum ansprechbar, nervös oder auch, wenn’s ganz dicke kommt, außer sich.
Aus der kreativ-bürgerlichen Welt gerissen
Die Serie untersucht, wie Menschen sich verhalten, wenn Ungewissheit über einen längeren Zeitraum hinweg andauert. Und sie wirft einen Blick auf Mutter-Sohn-Beziehungen.
Nach einem nächtlichen Autounfall ihrer Söhne, die, wie ihre Mütter, ebenfalls befreundet sind, werden drei Frauen um die 40 aus ihrer vorgeblich heilen, kreativ-bürgerlichen Welt herausgerissen und müssen sich ihren Dämonen, Ängsten und Lebenslügen stellen.
Währenddessen bleibt lange Zeit unklar, ob eines der Kinder sterben wird. Ebba (fantastisch: Rakel Wärmländer), Sofia Helin (My) und Gloria (Louise Peterhoff) verabschieden nach einem gemeinsamen Essen ihre Jungs in die Dunkelheit, diese wollen noch ausgehen.
Ein nächtlicher Anruf aus einer Klinik läutet ein, was sich zu einem Psychodrama in mehreren Akten zusammenbrauen soll und über sechs Folgen hinweg in Atem halten wird.
Ohne zu wissen, wie es den Söhnen geht oder was genau passiert ist, treffen sich die Freundinnen im Krankenhaus und wir begleiten sie dabei, wie sie versuchen, an Informationen über den Zustand der drei zu gelangen. Es gestaltet sich schwierig, und schon zu Beginn zeigt sich, wie sehr Zusammenhalt und Solidarität bröckeln, wenn es um das eigene Kind geht.
Die Regisseurin Sofia Adrian Jupither setzt ganz auf eine Wahrnehmungs- und Erzählweise aus weiblicher Sicht. Sie verlässt sich auf das ausdrucksvolle Spiel der Schauspieler:innen, stellt die Figuren als unterschiedliche und doch harmonisierende Charaktere nebeneinander und zerschmettert Freundschaftsgewissheiten auf geradezu unbarmherzige Weise. Das brillante Drehbuch stammt von einer der Hauptdarstellerinnen (Wärmländer) und Emma Broström. Ein reines Frauenprojekt also.
Eindringliche Bilder und Dialoge
Jede der drei Protagonistinnen hat im wahrsten Sinne des Wortes ihr Päckchen zu tragen. Während der Phase, in der nicht klar ist, ob einer der Jugendlichen überhaupt aus seinem Koma erwachen wird, müssen sich alle schlagartig mit Freundschafts-Altlasten und gegenseitigen Schuldzuschreibungen auseinandersetzen. Das klappt nicht in allen Fällen ohne Gewalt und Psychokrieg – hier und da springt auch eine der Nebenfiguren über Klingen.
In dichten, eindringlichen Bildern und Dialogen werden wir in jede der drei betroffenen Familien mitgenommen, während sie mit Angst und Schuld umgehen müssen.
Der Zerfall eines abgesichert geglaubten Umfelds, das Scheitern von Beziehungen, das Versagen im Zwischenmenschlichen – all das kommt zutage, weil drei Jungs teils unangeschnallt in das falsche Auto gestiegen sind. Der „Limbo“ ist hier ein Tanz auf Leben und Tod.
Viele kennen die Welt, in die Jupither uns führt. Es ist die Blase der Akademiker und Künstler. Der Gebildeten und Geschmackssicheren. Deshalb kommen einem die Protagonist:innen so immens nahe. Skandinaviens „Hygge“ ist in diesem Falle eine Lebensfantasie, die sich in dem Moment selbst zerstört, als das Schicksal anklopft. Ingmar Bergman, ick hör’ dir trapsen.
Zwischen Bücherregalen und geschmackvoller Garderobe, zwischen dem Sommerhäuschen auf dem Land und Healthy Food lauert das Grauen. Binge-Empfehlung extrem!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nachtcafé für Obdachlose
Störende Armut
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau