Schutz menschlichen Lebens: Liebe deine Fernsten
Die Gendertheoretikerin Judith Butler denkt über universelle Betrauerbarkeit nach, um eine neue Theorie der Gewaltlosigkeit zu begründen.
Spätestens seit den Debatten der 1970er Jahre um Ulrike Meinhof und die RAF oder um die in den 1990er Jahren stattfindende Blockade von Mutlangen, um die Stationierung von Pershing-Raketenzu verhindern, steht die Frage nach Sinn und Grenzen gewaltfreien Widerstands im Zentrum politischer Ethik.
Judith Butler: „Die Macht der Gewaltlosigkeit“. Aus dem Englischen von Reiner Ansén. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 250 S., 28 Euro
Genau dieser Frage widmet sich das soeben erschienene, auf Vorlesungen und einem bereits veröffentlichten Beitrag der US-Philosophin und Gendertheoretikerin Judith Butler beruhende Buch „Die Macht der Gewaltlosigkeit. Über das Ethische im Politischen“.
Zwar definiert Butler anfangs das, was sie als „Gewaltlosigkeit“ bezeichnet, kompliziert aber die vermeintlich einfache Frage nach deren Grenzen dadurch, dass sie den Begriff der „Gewalt“ vorsätzlich undefiniert lässt. Demnach ist Gewaltlosigkeit „weniger Handlungsunterlassung als vielmehr physischer Einsatz für die Ansprüche des Lebens, ein lebendiger Einsatz und ein Anspruch, erhoben durch Sprache, Gestik und Aktion in Netzwerken, Protestlagern und Versammlungen“. Und ist immer dort sinnvoll und geboten, wo „Zerstörung am wahrscheinlichsten oder sogar mit Sicherheit zu erwarten ist“.
So einleuchtend das klingt, so sehr verweigert sich Butler gleichwohl einfachen Antworten, versucht sie doch wieder und wieder zu belegen, dass das, was gemeinhin als „Gewalt“ bezeichnet wird, nicht eindeutig definierbar ist – werde doch etwa friedlicher Widerstand von Machthabern durchaus auch als „Gewalt“ bezeichnet.
Schutz menschlichen Lebens
Diese Schwierigkeit führt Butler zur Grundlegung einer neuen Ethik, die sie als eine Ethik der „Betrauerbarkeit“ bezeichnet und die in striktem Gegensatz zum modernen, westlichen Individualismus stehen soll. Butler lehnt diesen Individualismus mit dem stichhaltigen Argument ab, dass kein Individuum seine Existenz sich selbst verdankt, sondern dass wir alle – als die Individuen, die wir sind und sein wollen – das ausschließlich der hilfreichen Abhängigkeit von anderen verdanken.
Entsprechend plädiert sie für einen radikal egalitären Ansatz zum Schutz menschlichen Lebens (worunter sie nicht das „ungeborene Leben“ versteht): könne doch nur ein solcher Ansatz „eine Perspektive radikaler Demokratie in die ethischen Überlegungen zur besten praktischen Umsetzung von Gewaltlosigkeit“ einbringen. Diesen Egalitarismus will Butler eben durch besagte Ethik der Betrauerbarkeit begründen.
Erst dann nämlich, wenn allgemein eingesehen werde, dass jedes (menschliche) gleichermaßen betrauerbar und entsprechend wertgeschätzt sei, ließe sich die fatale Bestimmung von „Gewalt“ als bloßem Mittel zur Durchsetzung höherer Zwecke überwinden und ihre Spirale beenden. Sei doch „Gewaltlosigkeit“ im Unterschied dazu weder ein Mittel zum Zweck noch Selbstzweck, sondern eine „Technik jenseits sowohl der instrumentellen Logik wie teleologischer Entwicklungsmuster.“
Gewaltlosigkeit sei – wie Butler unter Bezug auf Walter Benjamins „Kritik der Gewalt“ aus dem Jahr 1921 schreibt – eine Technik, die weder herrsche noch beherrschbar sei. An dieser Stelle ist der Adorno-Preisträgerin Butler, einer vorzüglichen Kennerin sowohl der Philosophie des Idealismus als auch der Kritischen Theorie, ein Rückgang auf die Philosophie Griechenlands zu wünschen: wäre ihr doch dann klar geworden, dass selbstzweckhafte Handlungen eben keine „Techniken“, sondern – so schon Aristoteles – „Praxen“ sind.
Freund-Feind-Beziehungen
Butlers Philosophie der Betrauerbarkeit gipfelt jedenfalls in der Forderung, „dass kein Leben in seinem Fortbestand der Drohung von Gewalt, systemischer Vernachlässigung oder militärischer Auslöschung unterworfen sein sollte“. So überzeugend dieses Postulat auch im Grundsatz sein mag, so sehr führt es doch in jene auch von Butler anfänglich erwähnten Aporien zurück, die mit den Fragen der Legitimität gewaltsamer Selbstverteidigung beziehungsweise revolutionärer Gewalt zur Herstellung besserer Zustände verbunden sind.
Man muss Carl Schmitt nicht grundsätzlich zustimmen, um ihm darin recht zu geben, dass (tödliche) Freund-Feind-Beziehungen ein wesentlicher Bestandteil des politischen Lebens sein können: Dann aber stellt sich die Frage, ob und in welchem Ausmaß auch das Leben (unserer) Feinde betrauerbar ist oder doch sein sollte.
In der Summe lässt sich sagen, dass Butler für eine neue, metaethische Grundhaltung plädiert, womit freilich das von ihr anfangs erwähnte grundsätzliche Dilemma, ob es zulässig ist, zur Selbstverteidigung Gewalt anzuwenden, ungelöst bleibt; ebenso unbeantwortet bleibt die Frage, was es heißen kann, dass sogar Menschen, die unmenschlich gehandelt haben oder handeln wollen, betrauerbar sein sollen.
Ohne ihn zu erwähnen, scheint Butler für eine Haltung zu plädieren, die Friedrich Nietzsche ironisch als „Fernstenliebe“ bezeichnet hat. Lässt er seinen Zarathustra doch sagen: „Rathe ich euch zur Nächstenliebe? Lieber noch rathe ich euch zur Nächsten-Flucht und zur Fernsten-Liebe!“ Aber vielleicht will Butler auch nur mitteilen, dass in einer Welt, in der alle Menschen ihre grundsätzliche Interdependenz erkannt und alle anderen als betrauerbar anerkannt haben, das Problem von Gewalt und Gewaltlosigkeit ohnehin verschwindet: messianische Zeiten!
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