Schulsysteme in den USA: „Wir sind nicht willkommen“
Homeschooling war in den USA lange eine weiße Domäne. Doch die Schulform wird unter Schwarzen Familien beliebter.
taz: Frau O’Neal Johnston, Sie haben vier Kinder im Alter von 6, 8, 10 und 12 Jahren. Keines davon geht in die Schule. Was lehren Sie Ihre Kinder zu Hause, was sie an einer öffentlichen Schule nicht lernen würden?
Amber O’Neal Johnston: Alles über Schwarze Menschen. Ich selbst habe in der Schule nichts darüber gelernt, außer ein bisschen über Martin Luther King und Harriet Tubman. Auch wenn es an manchen Schulen mittlerweile besser ist: Der Unterricht zentriert sich in den USA auf weiße Menschen und dann wird hier und da ein Monat der Schwarzen Geschichte ausgerufen. Warum muss man das trennen? Es ist, als wären wir nicht wirklich Teil der ganzen Sache. In meinem Haus ist Geschichte sehr schwarz und sehr braun und sie umfasst alle. Das hatte ich am Anfang nicht auf dem Schirm, aber jetzt ist es ein Riesenaspekt meiner Arbeit.
Wie kam es dazu?
Als ich vor acht Jahren mit dem Homeschooling anfing, habe ich Lehrmaterial von weißen Familien benutzt, aber das endete in einem Desaster. Meine Tochter war sehr unglücklich darüber, schwarz zu sein. Sie hasste ihre Haut, ihre Haare, sie wollte nicht mit ihren schwarzen Puppen spielen und hielt sie in ihrem Schrank versteckt. Bis wir ein ernstes Gespräch geführt haben.
beschult ihre vier Kinder zu Hause und bloggt darüber auf heritagemom.com. Dort stellt sie inklusive Lehrpläne für andere Homeschooler zur Verfügung. Sie berät Privatschulen und spricht auf Konferenzen über Diversität und Interkulturalität. Gerade erschien ihr Buch „A place to belong“ im Penguin Verlag.
Worüber?
Wir waren auf einem Ausflug, auf der Toilette sahen wir eine lange Schlange von Frauen, alle waren weiß. Sie gingen aufs Klo, wuschen ihre Hände, hielten sie unter den Lufttrockner und gingen. Als meine Tochter ihre Hände trocknen wollte, ging der Automat nicht an. Wir alle wissen, dass ihre kleinen Hände wahrscheinlich das Signal nicht ausgelöst hatten, aber sie sagte laut: „Der Lufttrockner funktioniert wohl nur bei Weißen.“ Alle hörten es, niemand sagte etwas. Im Auto fragte ich sie, warum sie so etwas Lächerliches gesagt habe. Und sie meinte: „Die Weißen bauen all diese Dinge, also wissen sie auch, wie sie funktionieren. Du hast gesagt, wir nehmen in der Schule wichtige Leute durch und die sind alle weiß.“ Da merkte ich, was ich angerichtet hatte.
Und dann?
Leute haben zu mir gesagt: Wie kannst du als Schwarze Frau nicht wissen, was dein Schwarzes Kind braucht? Aber ich hatte es ja auch nicht gelernt. Meine Tochter so am Boden zu sehen, hat mich dazu motiviert, mich mehr zu informieren und die gesamte Kultur in meinem Haus zu ändern. Jetzt habe ich ein Buch darüber veröffentlicht, wie eine inklusive und diverse Kultur mit Kindern gestaltet werden kann.
In den letzten zwei Jahren hat sich die Zahl der Homeschooler in den USA nahezu verdoppelt. Der mit Abstand größte Zuwachs war bei Schwarzen Familien zu beobachten. Warum erst jetzt?
Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Unsere Vorfahren haben in diesem Land hart für das Recht auf öffentliche Schulen gekämpft. Diesem Recht einfach den Rücken zu kehren erzeugt Schuldgefühle, weil wir ehren wollen, was unsere Vorfahren erreicht haben. Heute denke ich, dass es eigentlich immer um eines ging: um Freiheit. Auch um die Freiheit, nicht in die Schule zu gehen. Die Homeschooling Community ist zudem extrem weiß, mit einem hohen Prozentsatz von Leuten, die uns Schwarze Menschen nicht mögen und ihre Kinder explizit zu Hause beschulen, um sie von uns fernzuhalten. Wenn man Homeschool-Konferenzen besucht, Artikel und Blogs liest, merkt man: Wir sind hier definitiv nicht willkommen. Nicht jeder ist bereit, als Pionier voranzuschreiten und das zu ändern.
Welche Rolle spielt Geld?
Ich kenne alleinerziehende Mütter und Eltern mit zwei Vollzeitjobs, die ihre Kinder zu Hause beschulen, aber in den meisten Fällen arbeitet nur ein Elternteil und das andere kümmert sich um die Beschulung und das ist ein Privileg. In vielen Schwarzen Communitys können sich die Leute das nicht leisten.
Und wieso dann jetzt?
Covid hat das verändert. Viele Schwarze Eltern und Kinder mussten ohnehin zu Hause bleiben. Es war eine erzwungene Chance. Als die Schulen wieder öffneten, merkten viele, dass es doch irgendwie klappte. Und sie fanden es wunderbar, ihre Kinder in einer Umgebung zu sehen, wo sie gesehen und gehört und wertgeschätzt werden. Und zuletzt: In dieser Zeit wurde George Floyd getötet. Vielen Eltern wurde jetzt erst bewusst, wie Rassismus in diesem Land aussieht. Sie waren nicht mehr bereit, ihre Kinder einem System anzuvertrauen, das sie nicht so liebt wie sie selbst.
Sehen Sie die Gefahr, dass der viel beschworene Riss, der durch dieses Land geht, sich vertieft, wenn alle in ihrer Blase bleiben und ihre Kinder aus der Schule nehmen, um sie nur noch Kontakten in der eigenen Community auszusetzen?
Weiße Leute müssen den Rassismus an Schulen bekämpfen, nicht Schwarze Kinder. Ich sehe nicht, wieso ich meine Kinder dem Ziel opfern sollte, dass rassistische Familien von Diversität profitieren.
Bekommen Sie manchmal Anfragen von weißen Familien?
Ich spreche vor allem zu Schwarzen Müttern und zu weißen Müttern mit Schwarzen Kindern. Aber irgendwann haben mich weiße Mütter angesprochen und gesagt „Diese Inhalte will ich auch für meine Kinder.“ Ich war überrascht, habe sie aber eingeladen. Auf meinem Blog folgen mir Schwarze Familien, die mich als Stimme für die Community wahrnehmen, aber eben auch weiße.
Und wie finden Sie das?
Ziemlich cool, Schande über mich, dass ich so kurzsichtig war. Ich hatte nicht erwartet, dass weiße Familien hören wollten, was ich zu sagen hatte.
In einem Ihrer Blogeinträge steht „Wir waren in Europa. Aber noch wichtiger: in Ghana.“
Unser Bildungssystem in den USA basiert auf europäischer Kunst, Musik, Literatur. Wir wollten also explizit für ein paar Monate ein Land in Afrika besuchen. In Ghana wird Englisch gesprochen und es liegt in Westafrika. Wir Afroamerikaner wissen nicht, woher wir genau kommen, aber am wahrscheinlichsten ist Westafrika. Wir wollten auch, dass die Kinder mal erleben, wie das ist, an einem Ort zu sein, wo alle schwarz sind, wie sie. Es war überwältigend. Und für die Kinder war es eine wichtige Lektion: Die Spannungen zwischen Schwarzen und Weißen in den USA haben nichts mit ihnen persönlich zu tun. Überall gibt es Konflikte, selbst wenn alle schwarz sind, wie in Afrika. Das liegt in der Natur des Menschen.
Viele progressive Stimmen wollen Homeschooling einschränken oder verbieten. Ein Argument ist häusliche Gewalt. Wie schützt man Kinder, die zu Hause beschult werden, davor?
Kein Kind sollte dem ausgesetzt sein. Aber es gibt auch Lehrer, die Schüler sexuell missbrauchen, und es gibt Amokläufe an Schulen, wie zuletzt im Bundesstaat Texas, es gibt viel Mobbing. Risiken existieren in allen Schulformen. Wir müssen uns fragen, was wir als Gesellschaft tun können, um alle Kinder zu schützen.
Sie wenden sich gegen eine staatliche Kontrolle von Homeschooling. Aber Kinder haben auch das in der Verfassung garantierte Recht auf Bildung. Hat der Staat nicht die Pflicht, das sicherzustellen?
Ich verstehe, was Sie meinen, aber ich weiß auch, dass Regulierung dazu führt, dass willkürliche Standards festgesetzt werden bezüglich dessen, was die Kinder jedes Jahr lernen müssen. Wer legt das fest? Es gibt auch an den Schulen Kinder, die durch das System rutschen, die nichts lernen und auf deren Bedürfnisse nicht eingegangen wird. Und in der Homeschool Community ist zu großen Teilen das Gegenteil der Fall. Eltern wissen in der Regel sehr genau, was ihre Kinder brauchen oder auf welchem akademischen Stand sie sind. Ihre Motivation, den Kindern das zu geben, was sie für ihren Erfolg brauchen, ist größer, als bei irgendwelchen Regierungsvertretern. Ich fürchte allerdings, dass mit der steigenden Anzahl von Schwarzen Homeschoolern irgendjemand einen Grund findet, um zu sagen: Wir müssen das jetzt regulieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge