Schule in Corona-Zeiten: Lernen im Wanderzirkus

Föderalistisches Chaos, steigende Ungleichheit: Die Bildungspolitik versagt gerade. Es wird Zeit, ein paar gute radikale Ideen wiederzuentdecken.

Schülerinnen mit Mund-Nasen-Masken.

Sich nach den Sommerferien wiedersehen. Aber mit Maske! Foto: Gregor Fischer/dpa

Nach einem halben Jahr Pandemie diagnostiziert das ifo-Institut desaströses Staatsversagen im Bildungssystem. Nur drei Zahlen aus der Studie: Die Bildungszeit der Schüler hat sich halbiert, die Zockzeit hat zugenommen; mehr als die Hälfte aller Kinder hatte weniger als einmal in der Woche Unterricht im Klassenverbund; fast ebenso viele kein einziges Einzelgespräch mit einem Lehrer oder einer Lehrerin. Kinder sind unsere Zukunft? Bildungsrepublik Deutschland? Vergesst es. Denn vorher sah es auch nicht viel besser aus: Schon Ende 2019 fehlten 26.000 Grundschullehrer, betrug die Investitionslücke bei den Schulen 44 Milliarden Euro, lagen die deutschen Bildungsausgaben unter dem OECD-Durchschnitt.

Zum Schulbeginn föderalistisches Chaos: Hier Regelunterricht ohne Masken in der Klasse, aber auf dem Gang; dort maskierter Präsenzunterricht ab Mittelstufe, hier ausschließlich Fernunterricht, andernorts Maskenpflicht im Unterricht aller Klassen. Beim Versuch, das Wirrwarr zu ordnen, fiel mir ein Text aus alten Zeiten ein. Er heißt „Plädoyer für den Hauslehrer. Ein bisschen Bildungspolitik“. Geschrieben hat ihn Hans Magnus Enzensberger im Jahre 1982.

Kurze Inhaltsangabe: Nach ausführlicher Rekapitulation der Verzweiflungsrufe und Seufzer von Lehrern, Schülern, Eltern vor der pädagogischen Klagemauer, steht der wunderschön poetische Satz – ich kann ihn auswendig: „Aus Gesagtem ergibt sich zwanglos die folgende Versuchsanordnung. Gegen halb neun Uhr morgens setzt sich Fräulein Zimmerle leise gähnend in ihren Volvo und fährt in die Siegfriedstraße. Unterwegs holt sie noch den kleinen Falk ab.“ Vier weitere Siebenjährige haben sich dort schon in der Wohnung von Familie Schneidewind versammelt. Fünf Schüler und die Lehrerin frühstücken und fangen mit der Arbeit an: lesen und schreiben können sie schon, denn „es handelt sich um Fähigkeiten, die jeder Mensch über vier in ein paar Wochen erwerben kann, es sei denn, er ginge in die Schule; dort dauert es, den Umständen entsprechende, mehrere Jahre.“

Auf zehn amüsanten Seiten entwickelt Enzensberger eine utopische Alternative zur institutionalisierten Grundschule: nomadischer Unterricht, ein „pädagogischer Wanderzirkus“ als „praktizierte Sozialkunde“ an wechselnden Orten statt in „betonierten Technokratenträumen“; gemeinsames Einkaufen, Kochen und Aufräumen statt Kantinenfraß. Fünfer- oder Siebenergruppen, eine kleine Schar, die anders als die übliche „dreißigköpfige Horde von schlechtgelaunten Trampeln“ in Rechenzentren, Gärtnereien, Museen, Fabriken, Werkstätten willkommen wäre; keine verstopften Autobahnen im Sommer, weil sich nur sieben Eltern und eine Lehrerin über Termine absprechen müssen. Und so weiter, und so weiter – der kleine Aufsatz bedenkt alle denkbaren Einwände und widerlegt sie einfallsreich, bis hin zu einer Lernrepublik, die keine Schulgebäude mehr brauchte – jedenfalls nicht für die ersten sechs Jahre.

Ich kann den Charme dieser verführerischen Vernunft­fantasie hier nicht annähernd wiedergeben, möchte sie aber zur Lektüre herzlich und dringend empfehlen („Politische Brosamen“, Suhrkamp).

Unterricht ist Beziehungssache

In „normalen“ Zeiten wirft man solche, von aufgeklärter Radikalität getragene Überlegungen sofort in die Schublade für vernünftige Vorschläge, die keine Chance haben. Aber: Die Krise ist eine Chance. Auch dieser Satz wurde in den Coronamonaten immer wieder vorgebetet. In der Pandemie hätte man die Notlage nutzen können, um das Konzept einer radikalen, dabei infektionsdämmenden Entinstitutionalisierung des Lernens zu testen. Wie starr und konventionell dagegen das meiste, was zur Schule in Coronazeiten öffentlich gedacht wurde. „Unterricht ist tatsächlich in hohem Maße Beziehungssache“ – so ein erstaunter Satz steht wie ein Fremdkörper inmitten all der Besorgnisse über informationstechnologische Infrastruktur, seuchensichere Toiletten, kontrollierte Sicherheitsabstände.

Anzeichen für den Beginn einer dringend notwendigen Kontroverse, ob und wie die durch Corona beschleunigte Digitalisierung und der Fernunterricht den Charakter von „Bildung“, gar die kognitiven Strukturen verändern, die Ungleichheit steigern, den sozialen Ort Schule schleifen wird, sind jedenfalls nicht in Sicht.

Der Bundespolitik ist neben dem schon beschlossenen Digitalpakt nur der „Kinderbonus“ eingefallen. 300 Euro für jedes Kind, das summiert sich zu 4,3 Milliarden für ein kurzes konsumförderndes Strohfeuer. 4,3 Milliarden – damit hätte man alle 240.000 Lehramtsstudenten in Deutschland 12 Monate lang zur Entlastung in die Schulen schicken können. Mit 1.500 Euro im Monat entlohnt, hätten sie für die Krisenzeit die Zahl der Grundschullehrer mehr als verdoppeln, kleine Lerngruppen bilden, Hausaufgaben betreuen können – und Zeit gewinnen lassen, um die Schulen gründlich zu modernisieren.

Einen Vorschlag in Richtung einer solchen Mobilisierung pädagogischer Potenziale hat Annalena Baerbock schon im Februar gemacht. Im Mai gab es mit ähnlicher Stoßrichtung eine Petition von ein paar Tausend Lehrern, Schuldirektoren, Päda­go­gik­pro­fes­soren. Daraus hätte eine kleine Bildungsrevolution werden können und ein praktisches Erfahrungsfeld für künftige Lehrer – und auch für diejenigen, die bei einem solchen Einsatz merken würden, dass es nicht der richtige Beruf für sie ist; auch das hätte viel künftiges Leid vermeiden helfen. Aber aus der Vernunft wurde, wieder einmal, keine soziale Bewegung.

Ein Traum, der an den Gegebenheiten vorbeigeht, an Organisationsproblemen, am Föderalismus, an der Freiheit? Nur zum Vergleich: Vor 85 Jahren, im amerikanischen New Deal, hat es genau drei Monate gedauert, um die Beschäftigung von 250.000 jungen Menschen im ökologischen Umbau zu organisieren.

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