Schuldspruch im Berliner Kippa-Prozess: „Ein sehr unbefriedigendes Urteil“
Der 19-jährige Syrer wurde nach Jugendstrafrecht schuldig gesprochen. Er kommt mit einer glimpflichen Strafe davon. Am Urteil gibt es Kritik.
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Dem Urteil zufolge schlug der Syrer den jungen Israeli mehrmals mit einem Hosengürtel, dessen Freund, ein Deutsch-Marokkaner, beschimpfte er antisemitisch. Beide trugen am 17. April im Stadtteil Prenzlauer Berg die traditionelle Kopfbedeckung jüdischer Männer. Der Angriff hatte eine Antisemitismus-Debatte ausgelöst, in mehreren deutschen Städten gab es Solidaritätskundgebungen. Auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte sich betroffen gezeigt.
Mit dem Urteil sind nicht alle glücklich. „Ich finde es sehr unbefriedigend“, sagte Mike Samuel Delberg nach der Verkündung. Er hat für die Jüdische Gemeinde zu Berlin das Verfahren beobachtet. „Das Wort Antisemitismus ist in der Urteilsbegründung kein einziges Mal gefallen“, so Delberg, „und die Botschaft lautet nun: Wer einen anderen schlägt, weil der Jude ist, bekommt vier Wochen Arrest, einen Ausstellungsbesuch und einen Life-Coach.“ Mit dem „Life-Coach“ meint Delberg, der auch zum zweiten Prozesstag am Montag demonstrativ mit Kippa erschienen war, den Betreuungshelfer, der Al S. ein Jahr lang zur Seite stehen soll.
Die Anwältin des Geschädigten Adam Armush als Nebenkläger hatte die Judenfeindlichkeit des Angriffs in den Mittelpunkt gestellt. In ihrem Plädoyer hatte sie sich mit flammenden Worten an den Angeklagten gewandt („Der Hass, den Sie im Herzen tragen, ist wie ein Vulkan, der sich in Ihrem Angriff entladen hat“) und das geflügelte Wort von der Sicherheit Israels als deutscher Staatsräson bemüht: „Wenn hier jemand einen israelischen Bürger attackiert, tritt Deutschland in die Verantwortung, Herr Al S.“.
Ziel der Nebenklage: Antisemitismus nachzuweisen
Anwältin von Adam Armush
Möglicherweise keine besonders kluge Argumentation, denn davon, dass der Angreifer die beiden Kippa-Träger nicht nur als – vermeintliche – Juden, sondern als Israelis identifiziert habe, war ja gar nicht die Rede gewesen. Offenkundiges Ziel der Nebenklage war es, Knaan Al S. und seinem zwei Jahre älteren Cousin Mohamad, der ihn begleitet hatte und am Montag als Zeuge aussagte, Antisemitismus als Triebfeder nachzuweisen.
Ob er sich für Politik interessiere, wollte Armushs Anwältin vom Cousin wissen. Was er von Israel halte? Ob er für die Facebook-Seite der syrischen Jerusalem-Brigade (Liwa al-Quds) ein Like vergeben habe? Ja, habe er, so Mohamad Al S., weil sich die vor allem aus Palästinensern aus seinem ehemaligen Wohnviertel in Damaskus zusammensetze und weil sie an der Seite der Armee gegen terroristische Gruppen in Syrien kämpfe. Im Übrigen habe es Israel auf den Landkarten in seinen Schulbüchern gar nicht gegeben. „Was denn dann?“, so der Richter. „Palästina, das Land meiner Großväter.“
Bisweilen wurde recht deutlich, dass Richter Raecke nicht sonderlich interessiert war, gegen Knaan Al S. ein Exempel wegen antisemitisch motivierter Gewalt zu statuieren. Ob die Nebenklage den Prozess zu einem Seminar über politische Auffassungen machen wolle, fragte er einmal, um später noch zu erwähnen, dass seine eigene Familie vor einiger Zeit einen palästinensischen Austauschschüler aufgenommen habe, der dann auch „Schreckliches“ zu berichten hatte.
Die Begegnung mit den beiden Kippa tragenden Männern am Helmholtzplatz, so Raecke, habe Al S. als „Ventil“ für seinen aus allen möglichen Gründen angestauten Frust gedient. Das gemeinsame Narrativ des Angeklagten und seines Cousins verfing bei Richter und Schöffen jedenfalls nicht: Sie hätten sich gegenseitig im Spaß beleidigt, dabei sei unter anderem der Spruch „Ich verfluche deine Juden“ gefallen. Den hätten Armush und sein Freund, die auf der anderen Straßenseite unterwegs waren, auf sich bezogen und die drei Araber ihrerseits als „Hurensöhne“ beschimpft, was Al S. dann zum Anlass für die Gürtelattacke genommen haben wollte.
Gegen den Zeugen wird wegen Beleidigung ermittelt
Erst währenddessen – das Video ging viral – wollte er Armushs Kippa bemerkt haben, was die „Jude“-Rufe erkläre. Dass er anschließend noch eine Flasche hochgehoben habe, sei auch nicht als Drohung gemeint gewesen, sondern habe der Verteidigung gegen Armush dienen sollen, der ihm auf die andere Straßenseite gefolgt sei. „Da passt gar nichts zusammen“, befand der Richter in der Urteilsbegründung und folgte hier den Einschätzungen des Staatsanwalts.
Das Gericht habe „nicht den geringsten Grund“ finden können, warum sich die Kippa-Träger mit der syrisch-palästinensischen Gruppe hätten anlegen sollen. Es schenkte den Erläuterungen des jungen Israelis und seines deutsch-marokkanischen Freundes Glauben, dass Knaan Al S. die beiden von Anfang aufgrund der Kopfbedeckung als Juden identifiziert und genau deshalb angefeindet habe.
Dass dieser im Rahmen seiner eigenen Version ganz freimütig bekannt hatte, er habe sich im Recht gefühlt, auf Beleidigungen mit Schlägen zu antworten, sei „schon ein starkes Stück“, meinte Raecke. „Da hat jemand ganz gründlich etwas nicht verstanden.“ Auch die durch den Anwalt von Al S.' Cousin in die Welt gesetzte Mutmaßung, bei der ganzen Angelegenheit habe es sich um einen Fake gehandelt, ja selbst eine der Zeuginnen sei möglicherweise eingeweiht gewesen, kam noch einmal auf. „Das war alles eine ganz schlechte Inszenierung“, so Mohamad Al S. in seiner Zeugenaussage, „um das als rassistisch oder so aufzubauschen.“
Ob er damit meine, alles sei nur eine Show gewesen, fragte Richter Raecke nach: „Glauben Sie, da gab es ein Drehbuch, und Sie haben sich naiverweise zum Mitspieler gemacht?“. Ganz so wollte es der Zeuge, gegen den selbst wegen Beleidigung ermittelt wird, dann doch nicht verstanden wissen: „Ich kann nicht sagen, dass es von Anfang an so gemeint war. Aber als plötzlich alle Politiker darüber geredet haben, dachte ich wirklich, vielleicht ist es eine Intrige.“
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