Schrumpfende Regionen: Rückbau Ost
Die 80-jährige Hildegard Beczinczka war dabei, als die DDR die Stadt Schwedt aufbaute. Heute ist der Ort verkleinert.
Z wei Baumaschinen sammeln die Reste einer abgerissenen Straße ein. Der Südwestwind trägt ihre Motorengeräusche über ein freies Feld. Darauf stehen zwei Plattenbauteile und bilden ein Portal zu einem betonierten Weg, der sich über die Fläche schlängelt. Sie sehen aus, als hätte sie jemand vergessen, und doch sind sie bewusst gestaltet. Sie sind ungewollt komisch und bilden doch ein Mahnmal. Auf eine der Platten haben Kinder einen Bagger gemalt. Seine Abrissbirne trifft auf ein hohes graues Haus, der hellblaue Himmel ist mit Wolken betupft. „Leben heißt Veränderung“, steht darüber. „Besser kann’s in Schwedt ja nich stehn!“, lacht Juliane Karsten.
Zu DDR-Zeiten sind die Plattenbauten hier wie Frühblüher aus dem Boden geschossen, dabei war bereits Herbst. Juliane Karsten hat das nicht erlebt, denn sie ist ein Nachwendekind. Doch die junge Mutter kann sich noch an die vielen Häuser erinnern. „Tausende“, wie sie sagt. Sicher weiß sie noch, dass die Platten eher braun als grau waren und dass an jeder Eingangstür ein Bild von einem Tier hing, das den Kindern half, nach dem Spielen den richtigen Aufgang zu finden.
Vielleicht kann sie sich an das gewellte Metallgitter erinnern, das im ersten Stock des ewig langen Treppenhauses angebracht war, um herunterfallende Dinge aufzufangen. Aus ihrer Kindheit bleibt sicher auch das Bild davon, wie erst die Gardinen in den Fenstern, dann die Kaufhallen, dann die Häuserblöcke weniger wurden. Doch über all das redet sie nicht. Sie sagt nur: „Früher war’s hier anders“ und „hier ist nichts mehr“.
Rasant erschaffen, ebenso schnell abgerissen
Schwedt an der Oder ist das Vorbild für den Rückbau Ost. Erst wurde es in der DDR rasant erschaffen, fast ebenso schnell wurde es nach der Wende abgerissen. Heute heißt es, die Stadt habe sich gesundgeschrumpft. Der Weg dahin war eher eine anhaltende Schocktherapie denn Genesung. Schwedt trägt noch immer das Erbe der DDR. Ohne Veränderung kann es noch immer nicht leben. Doch wie viel Veränderung verträgt eine Stadt, ohne ihren Kern zu verlieren?
Als Hildegard Beczinczka nach Schwedt kam, „da war hier gar nichts“. Es war ein trüber Februartag 1959. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren 85 Prozent der Stadt zerstört und daran hatte sich auch vierzehn Jahre später kaum etwas geändert. Es gab keinen Strom, kein fließend Wasser und gerade einmal 5.000 Menschen lebten hier. Die kleine Stadt inmitten eines Tabakanbaugebiets war schon vor dem Krieg keine Metropole gewesen, und doch war Schwedt danach ein Ort, der Entwicklung versprach.
An diesem Tag, einige Wochen vor der ersten Welle der Coronapandemie, wartet sie am Rande der „Regenbogensiedlung“, in der sie lebt. Die Häuser des Karrees sind mal zwei, mal drei Geschosse hoch und ihre Dächer sind spitz. Sie wurden in warmen Erdtönen gestrichen. An den neuen Fassaden hängen bunte Fensterläden und Balkone. Die Bäume davor sind noch zu klein, um die Sicht einzuschränken. Die Siedlung spielt eine moderne Kleinstadt.
Die 80-jährige Beczinczka kommt gerade vom Vorlesen im Kindergarten. Dornröschen und die Bremer Stadtmusikanten, „das wollten sie hören“. Sie hat zu dieser Zeit einen vollen Terminplan: Montag tanzen, Dienstag Märchen lesen, Mittwoch früh kegeln, abends Sport. Donnerstag Physiotherapie. „Freitag ist der einzige Tag, an dem ich frei habe“, sagt sie. An diesem Dienstag hat sie etwas Zeit, um Schwedt zu zeigen. Ihr Schwedt.
Ein vergessener Ort, Ruine und Wiese
Der einstige Beginn der Stadt liegt heute weit ab in ihrer Peripherie, auf der anderen Seite der Bahnschienen. Er ist ein vergessener Ort, Ruine und Wiese. Auf der einen Straßenseite steht eine Baracke mit einem braunen Holzzaun. Daran hängt ein schwarz-weiß-rotes Banner. Auf ihm ist ein Logo mit gekreuzten Schwertern, eisernen Kreuzen, Thors Hammer und einem Totenkopf mit roten Augen gedruckt. „Nuddeln/Tomattten aus dem Reich“, steht an der Tafel neben der vergitterten Eingangstür. „Unbefugten ist der Zutritt verboten“ und „Wer klaut der STIRBT“ darüber.
Beczinczkas Aufmerksamkeit aber gilt der anderen Straßenseite. Dort steht zwischen jungen Birken die verkohlte Ruine einer weiß gestrichenen Halle. Der Rest des Schriftzugs „Diskothek“ ist noch über den Eingangstoren zu erkennen. „Das sieht so vergammelt aus, dabei war es mal so ein schönes Kulturhaus“, sagt sie mit gedrückter Stimme und rückt ihre weiße Mütze zurecht. Ein starker Wind wechselt düstere Wolken und kräftigen Sonnenschein ab, die Kulisse steht still.
Anfang der 1960er Jahre erwachte hier das Schwedter Leben. Die DDR-Regierung hatte Großes vor. Ähnlich wie in Eisenhüttenstadt, das seinerzeit Stalinstadt hieß, erfüllte Schwedt alle Kriterien für eine florierende Industriestadt. Beide liegen rund 100 Kilometer von Berlin entfernt, Schwedt nordöstlich, Eisenhüttenstadt südöstlich. Beide hatten schon damals eine Bahnanbindung, einen Kanal als Transportweg und als Wasserquelle, die unmittelbare Nähe zu Polen. So entschied die DDR-Volkskammer Ende 1958, den Volkseigenen Betrieb (VEB) Erdölverarbeitungswerk – später Petrolchemisches Kombinat (PCK) – zu bauen. Schon am ersten Tag des neuen Jahres folgte die Betriebsgründung.
Dafür mussten Leute her. Hildegard Beczinczka lebte und lernte als junge Frau in der sächsischen Provinz. Sie wollte immer raus aus dieser, am liebsten nach Leipzig. Dann wurde die damalige Sekretärin mit ihrem Vorgesetzten nach Schwedt versetzt. „Die Entscheidung wurde mir abgenommen“, sagt sie. Die damals 19-Jährige war für den Einkauf beim Aufbau der Erdölraffinerie zuständig.
Sie war eine der ersten Zugezogenen und bald eine von vielen. „Wir kamen aus der ganzen Republik, alles junge Leute, aus allen Berufsgruppen.“ In den ersten Monaten lebten sie in Privatunterkünften, Zeltstädten, Gaststättensälen und später auch in einer rasch gezimmerten Barackenstadt im Park von Monplaisir, dem alten Lustschloss von Markgraf Philipp Wilhelm von Brandenburg-Schwedt.
Beczinczka war es, die die Arbeiterbaracken mit Möbeln aus der ganzen Republik ausstattete. „Es gab fast nichts“, erinnert sie sich und beginnt die Bestände und dessen Herkunft aus dem Effeff aufzuzählen. Sie nennt Barackennummern und zeigt dabei aufs flache Land. Der Aufbau der Industrie stand an erster Stelle, Wohnraum und Unterhaltung weit dahinter.
Das ging nicht lang gut. „Es gab ja viel mehr Männer. Es gab viele Schlägereien, auch wegen der Mädchen. Deshalb mussten dann auch Kultureinrichtungen geschaffen werden“, sagt Beczinczka. Neben einigen Bars gab es das „Tanzhaus Arthur Becker“, die ausgebrannte Baracke, über der heute Diskothek steht. Dort trafen sich die „jungen Erbauer“ zum Feierabend, um zu trinken, zu tanzen und zu schmachten.
Bald wurden auch die ersten Wohnblöcke nahe der kleinen Altstadt am Kanal gebaut. Sie reichten lange nicht für die, die sie bauten. Alleinstehende wie Beczinczka lebten übergangsweise in Wohngemeinschaften. Sie teilten sich ein Zimmer zu zweit oder zu dritt, „und dann sind wir jedes Mal weitergezogen, wenn die Wohnung wieder mit einer Familie belegt werden sollte“, sagt sie.
Babyboom Mitte der 1960er Jahre
1964 ging die Geburtenrate durch die Decke. „63 haben wir sie alle produziert und 64 sind sie alle gekommen. Bärbel im Januar, ich und die Friseuse Elfi im Februar, Inge und Rosi im April und so weiter“, erzählt sie. Die 24-jährige Beczinczka wurde eine alleinerziehende Mutter. Spät, für DDR-Verhältnisse. Arm, für DDR-Verhältnisse. Sechs Wochen nach der Entbindung ging sie wieder arbeiten, es musste ja weitergehen. Sie wurde mit 25 die Vorgesetzte von 30 Angestellten und studierte noch fünf Jahre neben ihrem Beruf. Zwar sagt sie: „Das war natürlich beschissen. Ich habe zehn Jahre kämpfen müssen“, doch es schwingt Stolz in ihrer Stimme. So sind sie, die Schwedter.
Als Beczinska 1959 in Schwedt ankam, lebten hier 5.000 Menschen. Fünf Jahre nach ihrer Ankunft waren es schon 19.000 und 1966 über 25.000. Der Altersdurchschnitt lag bei 26 Jahren, damit galt Schwedt als die jüngste Stadt der DDR. Es wurden immer mehr Wohnhäuser, Fabriken, Kaufhallen und Kulturgebäude gebaut und alle packten mit an. Bilder aus dieser Zeit zeigen Straßen voller junger Menschen mit Kinderwagen. Erzählungen schildern Aufbruchstimmung. „Und so ist nach und nach Schwedt Stadt entstanden“, sagt Beczinczka, als wäre es eine der Erzählungen, die sie im Kindergarten vorliest.
Auch der Bürgermeister Jürgen Polzehl kam Anfang der 1960er Jahre nach Schwedt. Der 66-Jährige erzählt nicht von seiner Kindheit, sondern von Zahlen. Polzehl ist einer der Protagonist:innen von „Rückbau Ost“, seit 1989 aus der Stadtverwaltung heraus, seit 2005 für die SPD als Bürgermeister von Schwedt. Er wartet nicht auf Fragen. Er zeigt vorbereitete Luftansichten und Diagramme von Bevölkerungs- und Wohnraumentwicklungen auf seinem iPad, redet vom Ein- und Ausatmen der Stadt. „Früher kamen die Leute für Arbeit und Wohnungen her, nach der Wende sind sie der Arbeit wieder hinterhergefahren. Dann ist Schwedt weniger geworden.“
Die Spitze der Bevölkerungskurve war 1980 erreicht. Fast 55.000 Menschen lebten damals in Schwedt. 50.000 mehr als noch 20 Jahre zuvor. „Im Petrolchemischen Werk haben 8.600 Menschen gearbeitet. Die brauchten alle Wohnraum. Da dieser Mangelware war in der Planwirtschaft, hat man hier komplexen Wohnungsbau probiert. Die Turmdrehkranzeiten haben das Quartier bestimmt“, lacht Polzehl. Quantität sei vor Qualität gegangen. Ab 1980 flacht die Bevölkerungskurve schon etwas ab. Nach 1989 aber bricht sie völlig ein.
Viele Orte im Osten sind nach der Wende weniger geworden. Weniger Menschen, weniger Häuser, weniger lebenswert. „Nach der Wende wurde die DDR mehr oder weniger vom Westen vereinnahmt“, erzählt Beczinczka, „und die Leute haben sie alle rausgeschmissen.“ Die Erdölraffinerie und die Papierfabrik kürzten die Zahl ihrer Mitarbeiter:innen radikal. Rohtabakfabrik, die Schuhfabrik, das Betonwerk, die Großbäckerei – dies sind nur vier von vielen Betrieben, die nach der Wende geschlossen wurden. Damit gingen vor allem Frauenarbeitsplätze verloren.
Bis heute ist sich Beczinczka sicher, die Betriebe hätten sich wieder von alleine erholt. Stattdessen wurden viele geschlossen. Tausende Schwedter:innen wurden arbeitslos, selbst aus guten Stellen heraus, wie auch Hildegard Beczinczka sie hatte. Besonders ab 1993 gaben viele auf. Tausende, gerade junge Menschen, verließen die Stadt. Neue Kinder gab es kaum. Die Stadt wurde schlagartig weniger – und älter. Der Leerstand nahm rapide zu.
„Die übrigen Menschen wurden in Turnhallen eingeladen, um ihnen zu sagen: Ihr steht auf Abriss“, sagt Jürgen Polzehl. 7.000 Wohnungen standen auf Abriss. Die Pläne, in denen fast der komplette Wohnkomplex VII grün unterlegt ist, bekam niemand zu sehen. „Die hätten uns ja wieder aus dem Rathaus gejagt“, sagt Polzehl.
Es war eine Zeit, von der in Schwedt niemand freiwillig redet. Doch die Neunziger waren die Zeit der Entbehrung, des Wegzugs und des Leerstands. Wer in die Hochzeit von Schwedt hineingeboren war, verbrachte seine Jugend in der kollektiven Depression und ohne Zukunftsaussichten in Schwedt. Wer seine Jugend in dieser Zeit verbrachte, lebte in Angst oder mit einem Schlagring in der Tasche. Denn vor dem Abriss war die Zeit der Gewalt und Bomberjacken.
Darüber wird eisern geschwiegen. Niemand will etwas mitbekommen haben. Selbst die nicht, die im Krankenhaus arbeiteten, wo jede Samstagnacht die Opfer rechter Gewalt eingeliefert wurden. Geprügelt hat man sich schließlich schon immer in Schwedt.
Auch der Bürgermeister fasst sich kurz, er sei ja damals noch nicht in Regierungsverantwortung gewesen. „Na ja, da gibt es Filme drüber“, sagt er und spricht die ARD-Dokumentation „Die Stadt gehört uns“ an. Diese zeigt Schwedt 1993 als gesetzlosen Ort, an dem die rechten Jugendlichen regieren. „Man dachte damals: Lass die doch, die brauchen auch was“, sagt Polzehl. Ein Großteil der Szenen spielten sich im Wohnkomplex VII ab, von dem nun kaum mehr als eine Wiese bleibt.
Früher kam die Polizei oft erst, wenn es zu spät war. Heute schleicht ein Streifenwagen über die halb abgerissene Straße im WK VII. Dort, wo jetzt „nichts mehr“ ist. Juliane Karsten schiebt ihren Kinderwagen über das freie Feld daneben, wo „nichts mehr“ ist. Am Horizont kämpfen einzelne Radfahrer:innen ab und an in Zeitlupe gegen den Wind an. Man fragt sich, wohin des Weges.
Auf der anderen Seite der halben Straße stehen die Uckermarkpassagen. Einen der zwei Flügel des Gebäudes schmückt ein metergroßes Mosaik von Friedrich Engels, der in seiner Darstellung und Pose einer Gottheit anmutet. Die weiße Passage ist von Gras und Birken bewachsen, hinter der Passage stehen kleine Nadelbäume. Der Waldrand rückt vor. Ginge es nach der Stadt, wären auch die Uckermarkpassagen längst passé. Doch sie sind in Privathand, sagt Juliane Karsten.
„Ich verstehe, dass alle dieses Bild von Schwedt einfangen wollen, aber ich habe dazu gar keinen Bezug“, sagt Karsten. Das Bild der Leere ist keines, das Schwedter:innen noch vor sich hertragen wollen. Für das Bild der florierenden DDR gibt es kaum noch Gedächtnisstützen, die nicht umgestaltet oder abgerissen sind. Die Uckermarkpassagen sind eine letzte. Wer als Nachwendekind in Schwedt lebte, kann sich an die großstädtisch anmutende Tiefgarage erinnern, die immer leerer wurde. An das Flanieren durch die engen Gänge, auf denen es kaum Gegenverkehr gab. An die dumpfe Hitze, die im Sommer auf der Terrasse zwischen den beiden Gebäuden stand. Daran, wie die Läden immer weniger wurden und irgendwann selbst die Post zumachte.
Als in den 2000ern drumherum schon eingezäunte Betonhaufen lagen, blieben nur noch zwei Clubs. Auch Juliane Karsten hat hier noch getanzt. Bis sie kürzlich auf ein benachbartes Dorf zog, lebte sie drei Jahre lang in der Gegend, ihre Schwiegereltern tun es noch immer. „Es gibt so viele Orte in Schwedt. Das hier ist für mich nicht Schwedt, das ist tot“, sagt Juliane Karsten und schiebt ihren Kinderwagen zurück zu ihrem Auto.
Wie kann eine Stadt gesund sein, die so viel entbehren musste? Wenn das, was eine Stadt einmal ausmachte, tot ist, was bleibt dann noch?
Die Hauptstraße der Stadt führt von der PCK-Erdölraffinerie vorbei an Baumärkten und Tankstellen, einem Einkaufszentrum, bunt bemalten IW-65-Plattenbauten, den letzten hohen Berliner Querplatten und dem alten Centrum Warenhaus. Der Blick hat Weite in der flachen Stadt, vor allem auf der breiten Allee, die auf das Theater zuläuft. Dahinter liegt das Kanalufer, das andere Ende der Stadt, dann kommen nur noch der Nationalpark „Unteres Odertal“, die Oder und Polen.
Am Ufer angekommen fängt die blonde Frau an, schneller zu reden: „Dit is Schwedt für mich. Hier sind überall Autos, überall Menschen und das Wasser“, sagt sie und steuert den Kinderwagen Richtung Bollwerk. Erst 2007 wurde der neu gestaltete Uferbereich eröffnet. Vorher stand hier das Betonwerk, dann dessen Ruinen. „Ich weiß gar nicht, wie das hier vorm Umbau aussah“, sagt Karsten. Und tatsächlich erinnert nichts mehr an die Vergangenheit.
Bankgroße Betonblöcke sind in zwei Grashügel eingelassen. Die so aussehen wie die Hochwasserdämme auf der anderen Wasserseite. Wer sich hier setzt, hat einen weiten Blick auf Uferpromenade, den Kanal und den Nationalpark. „Im Sommer ist hier alles voll“, sagt Karsten. Auch mit Kindern. Denn gerade erlebt die Stadt einen neuen Aufschwung. Kurz nach der Wende wurden noch viele Kinder geboren, wie Karsten, und die bekommen nun eigene Kinder.
Endlich zieht Schwedt wieder Menschen an
„Nach dem Einatmen haben wir ja wieder das Ausatmen geübt. Jetzt besteht die spannende Aufgabe darin, die Stadt wieder abzufangen“, sagt der Bürgermeister Jürgen Polzehl. In den letzten Jahren sei die Einwohner:innenzahl, zumindest mit den umliegenden Gemeinden, nicht unter 30.000 gefallen, das mache ihn stolz.
Schwedt zieht endlich wieder mehr Menschen an, als es abstößt, und die Geburtenrate habe sich mit rund 200 pro Jahr stabilisiert. Gleichzeitig sterben aber auch jedes Jahr doppelt so viele. Die, die Schwedt einst erbauten. Derzeit liegt der Altersdurchschnitt bei 51. Die Stadt ist nur noch halb so groß und doppelt so alt wie zu Bestzeiten.
„Wir brauchen neuen Wohnraum“, sagt Bürgermeister Jürgen Polzehl. Es klingt paradox, denn der Rückbau ist noch immer nicht vollendet. Doch mit einer renovierten Plattenbauwohnung sind zwar die Alteingesessenen zufrieden, Menschen aus Berlin könne man damit aber nicht anziehen, und eben die wolle man nun herholen. Auch Pol:innen sollen die Stadt bereichern und tun es bereits: Die größte Migrationsgruppe in Schwedt sind Pol:innen. Zusätzlich gibt es viele Berufspendler:innen, die zum Arbeiten täglich die Grenze passieren. Wie eng die Verbindung bereits ist, zeigte sich, als Mitte März die nahegelegene Grenze wegen der Coronapandemie geschlossen wurde. Ärzt:innen und Facharbeiter:innen wurden in Hotels untergebracht, um ihrer Arbeit nachgehen zu können. Vielleicht entscheiden sich einige von ihnen, ihren Lebensmittelpunkt ganz nach Schwedt zu verschieben.
Die Wohnsiedlung, in der Hildegard Beczinczka lebt, ist Polzehls Vorbildprojekt. Das Karree besteht aus dem Rohmaterial alter Plattenbauten. Zwei Stockwerke wurden abgetragen, Putz und Fenster sind neu, ihr Inneres ist altersgerecht gestaltet. „Das ist genauso teuer, als ob wir neu gebaut hätten, aber die Leute haben gesehen: Die reißen uns nicht ab, die machen aus der Platte was. Man muss auch ein Beispiel haben, um zu zeigen: Ihr seid uns wichtig.“ Gleichzeitig schrumpft die Stadt weiter, ohne dass es jemand mitbekommt.
Von der „Kunst des Schrumpfens“
„Die Kunst des Schrumpfens“, nennt Bürgermeister Polzehl das. Nachwendekinder, die sich entscheiden zu bleiben, wie auch Juliane Karsten, möchten nicht mehr in der Platte wohnen. Ein Grund ist auch, dass die Miete für eine große Wohnung so teuer ist wie die Rate für ein Eigenheim. Also bauen oder kaufen sie – außerhalb von Schwedt. Denn in Schwedt fehlt es an freigegebenen Bauflächen. Dort fährt man dann nur noch zum Einkaufen hin oder um am Kanal zu spazieren. Zu den Arbeitsstellen müssten viele noch weiter pendeln.
Juliane Karsten fährt jeden Tag 50 Kilometer nach Prenzlau zum Landschafts- und Umweltamt Uckermark und zurück. Und doch hält es sie in Schwedt, eigentlich war es nie eine Option, woanders hinzugehen, sagt sie. Karsten spaziert am Kanal und beschreibt lebendig die Umgebung: Hier die Hohensaaten-Friedrichsthaler-Wasserstraße „HoFriWa“, da der Nationalpark, dort „unsere Freilichtbühne“ hinter dem Theater. Sie klingt so amüsiert wie stolz.
Von hinten klingelt ein Rad: „Biddeschön! Siehste hier wird man noch weggeklingelt. Hier sind die Leute noch nett – nicht wie oben im Ghetto“, sagt Karsten und lächelt dabei. WK VII, das sagen nur jene, die zu DDR-Zeiten in Schwedt lebten. „Dit is für mich zu Hause – nicht der Scheiß da oben.“ Es heißt, die Stadt habe sich schöngeschrumpft. Ob sie das auch so sehe? „Ich weiß nicht, ob es schöner ist. Es ist anders“, sagt Juliane Karsten.
Die Stadt wird sich weiter verändern müssen, denn Abwanderung aufzuhalten allein reicht nicht. Die Energiewende könnte dafür sorgen. Wenn auch der Verbrennungsmotor Geschichte wird, muss in der Erdölraffinerie, die noch immer der größte Arbeitgeber der Stadt ist, umgedacht werden. Der russische Konzern Rosneft, Hauptanteilseigner der PCK Raffinerie, hatte kürzlich angekündigt, in den nächsten Jahren 600 Millionen Euro in den Umbau der Raffinerie zu investieren. „Transformation“, sagt Polzehl, die Augen weit geöffnet. Das könnte neue Arbeitsplätze bedeuten. Außerdem ist ein Innovationscampus geplant.
Schwedt, die Endstation vor der polnischen Grenze, gehört zur Großstadtregion Berlin-Brandenburg. Die Autobahnzufahrt nach Berlin ist jedoch 50 Kilometer entfernt und der Regionalexpress fährt stündlich und ständig auf Schienenersatzverkehr. 2026 soll der Zug nach Berlin zu Hauptverkehrszeiten im Halbstundentakt fahren. Auch die Verbindung in das 50 Kilometer entfernte Szczecin soll ausgebaut werden. Vielleicht verirren sich dann mehr Menschen nach Schwedt. „Wenn ich die Entwicklungsachse Berlin-Stettin bedenke, dann steht der Standort okay“, sagt Polzehl. Reicht okay für Schwedt?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland