Schriftsteller Peter Weiss und der Fußball: Die Athletik des Widerstands
In seinen Notizbüchern bezeichnete Peter Weiss Sport als „ablenkend vom politischen Kampf“. In seinem Hauptwerk klang er anders.
Von Sport hat Peter Weiss, der Schriftsteller, der an diesem Dienstag 100 Jahre alt geworden wäre, nichts verstanden und nichts gehalten. Aber sein Hauptwerk, „Die Ästhetik des Widerstands“ (1975 bis 1981), handelt von Arbeiterjugendlichen, von ihrem Leben im antifaschistischen Widerstand, von ihren Diskussionen, ihren Problemen, ihrem Alltag. Da muss ich den Sport irgendwie reinpacken, hatte sich Weiss wohl gedacht.
Und tat es auf diese Weise: „Dass Anteilnahme nur aufkam, wenn es sich um ein Fußballspiel handelte“, heißt es im dritten Band der „Ästhetik“ über Arbeiter, denn „da konnten sich alle Auflehnung gegen die Betäubung, alle Begierde nach einem anderen Leben leidenschaftlich der behenden Kunst zuwenden“. Der Fußball gilt Weiss da als „eine kurze, erlaubte Freiheit“, in der „alles Verlangen nach Selbständigkeit und Erfindung glühend“ aufgehe.
„Kurze, erlaubte Freiheit“, eine schöne Umschreibung des Fußballsports. Und dass Fußball – gerade unter den Bedingungen des NS-Faschismus und zumindest für einige Fans – eine Form der Auflehnung sein konnte, ist eine interessante These, die Weiss erst entwickeln musste. An einer Stelle im ersten Band der „Ästhetik“ wird Fußball noch nur als irgendeine Form des Zeitvertreibs beschrieben, die Weiss in eine beliebige Aufzählung packt: „die täglichen Sportstunden, das Fußballspiel, das Zusammensitzen beim Skat, am Schachbrett, am elektrischen Klavier“. Nichts Besonderes, nichts Sinnvolles anscheinend.
Die Beschreibung des Fußballs als „kurze, erlaubte Freiheit“ im dritten Band zeigt jedoch die Transformation der umfangreichen Notizen, die die „Ästhetik“ vorbereiteten, zur letztlichen Form, dem großen Roman. In den „Notizbüchern“, die auch in Buchform vorliegen, hat sich der Kommunist Weiss noch deutlich anders geäußert, 1976 heißt es: „Ich hasse Sport. Verdummend.“ Und im gleichen Jahr schimpfte er dort über den „Matsch des Leichtverdaulichen, Ablenkenden, dieser ganze Dunst von sogenannter Unterhaltung, von Zeitvertreib, Sport, der war uns über!“
An einer weiteren Stelle beklagt er, wie sehr sich dieser ihm verhasste Sport immer wieder in die Unterhaltungen von durchaus klassenbewussten Arbeitern schmuggelte: „Bei den Gesprächen kaum etwas über Weltpolitik. Es werden behandelt Probleme im Zusammenhang mit fachlicher Arbeit, Lohnfragen, Verbesserungen des Arbeitsmilieus. Dann kommt man immer wieder auf Sport. Vor allem Fußball. Fußball verdummend. Ablenkend vom politischen Kampf.“
Besser kritzeln als den Sonntag Fußball zu gucken
Dabei diagnostizierte er sehr wohl eine gewisse gegenseitige Fremdheit: Immer wenn er mit Arbeitern über ihre soziale Lage diskutiere und sich Notizen mache, dann erscheine ihm sein eigenes „Gekritzel verächtlich“, schrieb er 1979, denn: „Da sitzt du und kritzelst, dachte ich, und, wenn sie mich hier kritzeln sähn, dann würden sie Grimassen schneiden, mit den Fingern auf ihre Stirn pochen ticken.“
Peter Weiss
Diesen Gedanken, mit seiner schriftstellerischen Arbeit nicht ernst genommen zu werden oder, schlimmer noch, „dass Arbeiter sich für Reaktionäres einsetzen“, wozu er ohne nähere Begründung den Sport zählte, fand Weiss ganz schrecklich. Es verunsicherte ihn, und er fragte sich, ob er mit seinem Schreiben zum Verräter geworden sei, wenn er über die berichte, „die meine Beschäftigung des Schreibens lächerlich fanden“, die es jedoch zugleich „nie zugelassen hätten, wenn man ihre beim Fußballzusehn verbrachten Stunden lächerlich“ gefunden hätte.
Für Peter Weiss, so selbstbewusst war er, galt zwar: „Immer noch besser, kritzeln, als den Sonntag in der Arena beim Fußball zu sitzen.“ Doch zugleich gab es wohl einen Impuls in ihm, nicht das zu verachten, was den Menschen, die ihm wichtig waren, wichtig war.
So dürfte es zu erklären sein, dass der kommunistische Fußballverächter Peter Weiss, dem bei Sport nur „Ablenkung vom Klassenkampf“ einfiel, sich in der „Ästhetik des Widerstands“ eine wesentliche klügere Haltung zum Sport erarbeitet hat, als man sie durch bloße Lektüre der Notizbücher erwarten konnte. Anders formuliert: Eine kurze, erlaubte Freiheit ist ja nichts Verdummendes.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Polarisierung im Wahlkampf
„Gut“ und „böse“ sind frei erfunden
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Nach Absage für Albanese
Die Falsche im Visier
Soziologische Wahlforschung
Wie schwarz werden die grünen Milieus?
Wahlverhalten junger Menschen
Misstrauensvotum gegen die Alten
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt