Schriftsteller Hanif Kureishi: "England gehört jetzt mir, Baby!"
Hanif Kureishi hat einen neuen London-Roman geschrieben. Der britische Autor über Gangster-Rapper über großen Autos, Islamophobie und Schwulenparties in Karatschi.
taz: Herr Kureishi, in Ihrem neuen, gerade eben auf Deutsch erschienenen Roman zeichnen Sie ein Panorama des heutigen London. Ist das denn noch die gleiche Stadt wie jene, die Sie in Ihren früheren Büchern porträtierten?
Hanif Kureishi: Oh nein. Seitdem ist eine riesige Menge an Geld in die Stadt geflossen - aus Japan, den USA, aus Russland oder von den Saudis. Dort, wo ich in London lebe, wohnen fast nur noch reiche Leute - und ein paar Arme. Die Mittelschicht ist komplett in die Vororte verdrängt worden. Dafür ist London heute in ethnischer Hinsicht viel durchmischter.
Ein Unterschied zu Deutschland?
Ja. Als ich jetzt in Deutschland unterwegs war, hatte oft nur ich eine andere Hautfarbe. Und viele deutsche Journalisten sehen mich seltsamerweise als einen Migrantenschriftsteller an. Sie fragen: Fühlen Sie sich als Immigrant, britisch? Aber ich bin von nirgendwoher eingewandert: Meine Mutter ist Engländerin, ich bin hier geboren. England gehört jetzt mir, Baby!
Steht Deutschland heute da, wo Großbritannien vor 20 Jahren stand?
Die lange Beziehung zwischen Großbritannien und Indien oder der Karibik geht auf die Kolonialzeit zurück. Das ist ein Unterschied. Aber es führt kein Weg daran vorbei, dass ganz Europa auf lange Sicht multiethnisch werden wird. Man kann das nicht aufhalten. Man muss nur einen Weg finden, wie es funktioniert.
Glauben Sie, die Europäer kriegen das hin?
Sie haben keine andere Wahl. Die ganze Welt ändert sich so schnell durch die Globalisierung. All die schlechten Jobs in England werden jetzt zum Beispiel von Polen und Afrikanern übernommen.
Und was machen die Inder und Pakistaner jetzt?
Wir sind aufgestiegen. Uns gehören jetzt die Läden.
Jetzt sagen Sie "wir"?
Ja. Wir haben jetzt die Läden und auch die Literatur übernommen. (lacht) Und in zwei Generationen werden sich die Polen und die Afrikaner hier Häuser kaufen, und Leute aus Rumänien oder sonst woher werden die schlechten Jobs übernehmen.
In Ihrem Roman zeichnen Sie das Bild einer Gesellschaft, in der Religion und Herkunft nur noch eine untergeordnete Rolle spielen. Aber gewinnen Identitätsfragen in multiethnischen Gesellschaften nicht sogar an Bedeutung?
Wir hatten solche Debatten in den Achtzigerjahren mit Thatcher, als es mit dieser alten Vorstellung von britischer Identität den Bach runterging. Man führt solche Debatten, und dann geht man einen Schritt weiter. Denn wenn man in einer kapitalistischen Ökonomie leben will, dann muss man sich von bestimmten Vorstellungen von nationaler Identität verabschieden. Das ist der Preis.
Nach den Anschlägen in London gab es hierzulande die Befürchtung, der britische Multikulturalismus sei an sein Ende gekommen. Wie sehen Sie das?
Ich finde, er funktioniert sogar ziemlich gut. Sehen Sie, die meiste Zeit bringen sich die Menschen hier nicht gegenseitig um. Klar, ab und zu jagt mal irgendwer etwas in die Luft. Aber die meiste Zeit läuft es in meinem Viertel ziemlich rund. In den indischen Läden gibt es inzwischen sogar polnisches Essen. Und wenn sich Polen und Inder in die Haare kriegen, dann liegt das in den seltensten Fällen an ihrem ethnischen Hintergrund.
Auf dem Kontinent ist das anders. Haben Sie gesehen, was in Holland nach dem Mord an Theo van Gogh los war?
Ja, Holland ist in einer echten Identitätskrise. Es ist so ein kleines Land und auch eine viel homogenere Gesellschaft als Großbritannien.
Wie kommt es, dass es nach den U-Bahn-Anschlägen von London keine antimuslimischen Ausschreitungen gab?
Weil jeder hier Bush und die USA dafür verantwortlich gemacht hat. Jeden Tag schmeißen wir Bomben auf den Irak und Afghanistan. Wen wundert es da, wenn auch mal bei uns eine Bombe explodiert? Die Vorstellung, dass man dort tausende von Bomben auf die Bevölkerung werfen kann, ohne eine solche Reaktion zu provozieren, ist doch weltfremd. Es gibt einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen diesen Dingen - auch wenn mir das nicht gefällt.
Gibt es in England also keine Islamophobie?
Es besteht natürlich immer die Gefahr, dass eine bestimmte Gruppe zum Feind erklärt wird. Das ist sehr gefährlich. Es gibt im Westen eine Menge Mythen über den Islam - so wie es viele Muslime gibt, die falschen Vorstellungen vom Westen aufsitzen. Solche Vorstellungen können nur überwunden werden, indem richtige Menschen mit richtigen Menschen zusammentreffen.
Das hilft nicht immer. Die U-Bahn-Attentäter waren ja bestens integriert.
Aber die allermeisten Muslime sind keine Islamisten. Die meisten Muslime wollen einfach nur ein gutes Leben führen - das gleiche wie alle anderen auch. Nur, dass sie am Freitag eben in die Moschee gehen.
In vielen europäischen Ländern gibt es Debatten über Kopftücher und neue Moscheen. In England nicht?
Nein. Und es kommt mir auch ziemlich irrational vor, den einen zu verwehren, was man den Rastafaris, der Moon-Sekte oder der anglikanische Kirche erlaubt. In London boomt derzeit übrigens der Katholizismus. Dank der vielen Polen sind die Kirchen, die jahrelang leer standen, jetzt richtig voll. Die Leute stehen bis draußen vor der Tür, weil drinnen kein Platz mehr ist.
Und die Moscheen?
Ich weiß nicht. Ich war schon lange nicht mehr in einer Moschee.
Sie waren der Erste, der mit dem Roman "Black Album" oder dem Drehbuch zu "My Son, the Fanatic" über die Radikalisierung junger britischer Muslime geschrieben hat. Ist das für Sie kein Thema mehr?
Das war groß in den Neunzigerjahren. Damals konnte man in eine Moschee gehen, und jemand würde aufstehen, um über Homosexuelle, Frauen oder Drogen herzuziehen. Das war unglaublich, diese ideologischen Reden. Ich glaube nicht, dass es das heute noch gibt. Die Polizei würde kommen und dich festnehmen.
Eine positive Entwicklung?
Absolut.
Ist der radikale Islamismus in Ihren Augen also keine Gefahr mehr?
Ich hasse den Islamismus, das ist eine schreckliche Ideologie. Aber es gibt viele Arten von Gefahren auf dieser Welt. Auch der entfesselte Kapitalismus ist eine Gefahr, weil er eine große Unterschicht produziert. Und George Bush ist eine Gefahr, vor dem hätte ich weit größere Angst.
In Ihren früheren Büchern bot die Popkultur noch so etwas wie einen Fluchtpunkt, gar eine Utopie. Was hat sich geändert?
Pop, das war früher das Versprechen einer anderen Welt, zu der man sich magisch hingezogen fühlte. Du lebtest in einem langweiligen, bürgerlichen Haus, und plötzlich hörtest du Elvis oder die Rolling Stones, und es war um dich geschehen. Inzwischen hat sich Pop in die Mitte der Gesellschaft bewegt. Es gibt immer noch gute Musik. Aber sie steht nicht mehr für die gleiche Art von Rebellion.
Vielleicht nicht für Sie. Aber vielleicht für Ihre Kinder?
Sie hören viel Hiphop und tragen ihre Mützen verkehrt herum. Aber sie haben nichts, wogegen sie rebellieren müssten. Außer gegen diesen Umstand in gewisser Weise.
Wofür begeistern sich Ihre Kinder?
Ihr Lieblingsprogramm ist "HipHopCribs": Da sieht man die Häuser der Hiphop-Stars und wie sie ihre Autos polieren. Meine Kinder lieben diesen Materialismus und dieses schwarze Gangstertum.
Macht man sich als Vater da keine Sorgen?
Nein. Es wird einem nur klar, dass die Hiphop-Kultur heute für weiße Mittelklasse-Kids gemacht wird. Leute wie 50 Cent verkleiden sich und spielen eine Rolle. Als Kind hatte ich auch eine Schwäche für Gangster: Sie sind der Prototyp des Macho-Helden. Und diese Machohelden haben auch noch riesige Autos!
Schaut man auf die spektakulären Abstürze von Stars wie Britney Spears oder Amy Winehouse, scheint es der Popkultur derzeit nicht allzu gut zu gehen. Ist das ein Symptom?
Das sind Anzeichen von Erschöpfung und Dekadenz. Amy Winehouse hat eine tolle Stimme. Aber wenn sie sich beim Crackrauchen fotografieren lässt - das ist das Ende des Pop.
Bietet die Popkultur also gar keine Alternative mehr?
Doch, zumindest in bestimmten islamischen Ländern. Einer meiner Cousins ist schwul und lebt in Karatschi, in Pakistan. Die Schwulenszene dort ist groß und lebendig, sie werfen sich in die Kleider ihrer Mütter und feiern wilde Partys. Aber das ist gefährlich in Pakistan! Die Polizei kann dich dafür ins Gefängnis werfen. In solchen Ländern gibt es noch einen Gegensatz zwischen der etablierten Gesellschaft und der fremden, seltsamen Welt da draußen.
Waren Sie mal wieder in Pakistan?
Nein, schon länger nicht mehr. So etwas wie die Schwulenszene in Karatschi, das interessiert mich. Aber darüber halten mich meine Cousins auf dem Laufenden, wenn sie mich in London besuchen. Neulich war wieder einer da.
Und, was erzählte er?
Benazir Bhutto war gerade umgebracht worden - und er hielt das für eine gute Sache.
Warum das denn?
Weil sie jetzt zu einer Art Symbol werden kann. Wäre sie an die Macht gekommen, wäre das eine Katastrophe geworden, denn sie war korrupt und nicht besonders helle. Jetzt ist sie tot und kann als Symbol für Freiheit und Demokratie dienen.
Wie sehen Sie Pakistan?
Das Land steckt in einer Zwickmühle. Die Leute dort hassen die USA. Aber sie brauchen sie, um die Taliban in Schach zu halten, die sie noch mehr hassen. Die USA haben Millionen von Dollar in das Land gepumpt. Aber das meiste davon ist nicht in den Kampf gegen die Taliban geflossen: Die Armee hat es in der Schweiz deponiert.
Sind Sie ein Moralist?
Nein, ich sehe mich eher als Beobachter. Moralist zu sein würde bedeuten, dass ich wüsste, wie die Menschen leben sollten, um glücklich zu sein. Das tue ich aber nicht. Fragen Sie mich also besser nicht um Rat!
INTERVIEW: DANIEL BAX
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