■ Schlagloch: Schon alles vergessen, Genossen? Von Nadja Klinger
„Wie kann Kohl abgelöst werden?“ Gregor Gysi in der taz vom 7./8. September
Was soll die Frage? Für ein Vorstandsmitglied der PDS ist sie eine zeitgemäße politische Überlegung: Welches Wahlergebnis bräuchten wir, um die Regierung zu bekommen, die das Land braucht? Für einen Genossen in irgendeiner Basisorganisation ist die Frage wohl Ersatz für alle Antworten, die er selbst nicht gibt. Sie meint: Kohl und der Westen sind an allem schuld.
Das weltfremde Weltbild ihrer Basis macht die PDS zu einer „hoffnungslos überalterten“ Partei (André Brie). Die weltoffenen Regungen einiger ihrer Spitzenpolitiker schüren Hoffnung. Dennoch sind es letztere, die die Möglichkeit wirklicher Veränderungen vergeigt haben.
Wenn man in einer Partei nicht dieselben Antworten hat, dann kann man miteinander reden. Wenn man aber nicht dieselben Fragen hat, dann bleibt nichts zu tun. Die Geschichte der PDS ist frustrierender als die festgefahrenen politischen Strukturen der Bundesrepublik.
Einmal klagte Gregor Gysi: „Das Gefühl, in Bonn nicht dazuzugehören, ist plötzlich weg.“ Er trug ein kleines Bäuchlein mit Anzug und Krawatte und saß mitten in der hohen Politik. Neben, über ihm und um ihn herum thronte sein großer, kräftiger Pressesprecher. Hanno Harnisch kaute auf irgend etwas herum, was er in seiner Hosentasche gefunden hatte. Mein Kollege und ich nickten Gregor Gysi zu. Der fühlte sich verstanden. Er duzte uns aus Versehen. Wir lachten gelöst, Harnisch kaute angespannt. Der Politiker Gysi hat gern jemanden dabei, der später bezeugen kann, was er wirklich gesagt hat.
Politik ist das, was für den einen die Frage „Wie kann Kohl abgelöst werden?“ ein- und für den anderen ausschließt. Die PDS wird koalieren oder nicht. Jedenfalls leiden einfache Genossen daran, sich nichts erklären zu können. Gleichzeitig engagiert sich Gregor Gysi mit dem „zwanghaften Gefühl, auf jede Frage, auch wenn sie noch so blöd ist, eine Antwort haben zu müssen“. Auf eine nicht so blöde Frage antwortete er: „Politik muß auf irgendein Ziel ausgerichtet sein ... Das kann sogar unerreichbar sein.“
Wer ein gut funktionierendes Gewissen hat, der rechnet auch bei der PDS mit allem, was er sonst im Leben gern umgeht: Taktik, Kalkül, Geschwafel, Lüge. Etwas ist immer dabei.
Einmal kandidierte Stefan Heym für den Bundestag. Seine Wähler mochten seine Bücher oder wollten Ärger. Heym ging als Sieger nach Bonn. Gewählt zu werden bedeutete der PDS einerseits alles. Nach einem Jahr beendete Heym sein Gastspiel im Bundestag. „Meine Stimme erwies sich als zu schwach“, erklärte er. Was muß der Mann gelitten haben! Gewählt zu werden bedeutet auch der PDS andererseits nichts.
Einmal wurde Horst Dieter Brähmig erster PDS-Bürgermeister einer großen Stadt. Er wollte „Ordnung und Sicherheit“ und doppelt soviel Polizei in Hoyerswerda. Eigentlich wäre der ehemalige SEDler 1990 gerne in die SPD eingetreten. „Thierse und Schorlemmer“, sagt der PDS-Politiker, „waren wie Sauerstoff“.
Einmal versuchten Kalikumpel, ihre vom Westen abgeschriebene Grube zu retten. Politiker und Journalisten kamen herbeigeeilt. So wurde aus einem Hungerstreik große Geschichte. Hat Bischofferode dazugelernt und wählt bald PDS? munkelte man. Die Kumpels aber wollten nicht wählen, sondern ihr Leben weiterleben. Ihr Betriebsratsvorsitzender werde „auf einen ganz bestimmten Dampfer“ springen, nuschelten sie hinter vorgehaltener Hand. Gerhard Jüttemann ist für die PDS im Bundestag. Jeder „Dampfer“, haben seine ehemaligen Kumpel dazugelernt, läßt die Heimat weit, weit hinter sich.
Einmal nahm die Lebenslüge von Radiomoderator Lutz Bertram ein böses Ende. Der einstige Stasispitzel fiel von hoch oben. Tief unten, als er schon sehr weit gefallen war, fing die PDS ihn als ihren Medienberater auf. „Genosse Gysi“, witzelte Bertram sofort, „wer ist eigentlich der schlimmste Dreckspatz im Land?“
Wie kann Kohl abgelöst werden? Ganz einfach. Indem so eine Frage nicht mehr gestellt wird. Dazu darf man aber nicht parteipolitisch denken. Die PDS ist die einzige Partei in der neuen Bundesrepublik, die die Chance dazu hatte. Sie hätte anstatt auf Wähler auf ihre Mitglieder setzen können. Dann hätte sie nicht Kohl ablösen, aber irgendwann sich selbst erlösen können: von der Angewohnheit, keine Fragen zu stellen und immer nur zu antworten, von der Unfähigkeit, sich selbst mit den Dingen um sich herum in Zusammenhang zu bringen.
Doch sie hat die Chance vertan. Eine „bunte Truppe“ (PDS) schaut zu ihren Spitzenpolitikern auf. Die müssen gesamtdeutsch denken. Sie verwandeln die Gutgläubigkeit ihrer Genossen und Anhänger in Parlamentssitze. Das klappt, theatralische Höhepunkte eingeschlossen: Die PDS führe ideologische Diskussionen als Ersatz für Politik, meckert André Brie. In den Basisorganisationen werden die Uhren eben nicht nach Bedarf gestellt. Hier denkt man so, wie man es im Alltag erfährt. Und wer merkt, daß er nichts verändert, der ideologisiert gegen seine Machtlosigkeit an. Schon vergessen? Schon vergessen, Genossen, daß man nichts begreifen kann, was das Leben einem nicht beibringt?
Oder zu beschäftigt? Auf der politischen Bühne muß fleißig Theater gespielt werden: Erneuerung, Erneuerung, Stasi rauswerfen, Stasi wieder einfangen, an die große Glocke hängen, was dafür nicht bestimmt ist, vertuschen, was alle angeht. Die Geister, die dieses Theater hervorruft, wird die PDS nicht mehr los.
Sie macht Parteitage mit 426 Delegierten und 428 Journalisten. Diese haben der Partei des demokratischen Sozialismus einst das öffentlichkeitswirksame Outfit und den Kopf von Gregor Gysi gegeben. Jetzt geben sie der PDS das Gesicht von Sahra Wagenknecht. Hat sich Gysi da eben gewundert? Dem Parteikritiker André Brie, den man einst berechtigterweise von der Bühne verweisen wollte, reist die Presse jetzt in den Urlaub hinterher, um ihn zu interviewen. Die vielen moralischen Bedenken gegen den Stasi-Mann in der hohen Politik bringt die Berliner Zeitung gerade noch auf einen Satz: „Mit der Schramme im Gesicht wird er leben müssen.“
Die Frage „Wie kann Kohl abgelöst werden?“ stellt der PDS nicht das Leben. Sie ist Teil der Inszenierung von Veränderung und Verantwortung. Wenn ich auf diese Inszenierung einsteigen soll, dann will ich aber wissen, was sich zwischen Gregor Gysi und der Stasi wirklich abgespielt hat. Vielleicht kann Lutz Bertram die Geschichte für die Partei medienwirksam aufarbeiten.
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